Paris: „Le Malade imaginaire“, Jean-Baptiste Molière & Marc-Olivier Dupin

Ein Dauerbrenner der Comédie Française in der zeitlos schönen Ausstattung von Ezio Toffolutti, mit nicht klanglosen, aber eher belanglosen neuen Musik-Einlagen.

© Vincent Pontet

Wie schön, wenn erfolgreiche Produktionen nicht gleich in der Mottenkiste verschwinden. Die Inszenierung von Molières „Le Malade imaginaire“ (Der eingebildete Kranke) von Claude Stratz in der wunderbaren Ausstattung von Ezio Toffolutti gehört zu den Dauerbrennern der Comédie Française und wurde seit 2001 schon über 500-mal gespielt. Im Rahmen einer Europatournee gastierte sie 2004 im Theater in der Josefstadt und reiste bis in die USA und nach China. Der Grund weswegen sie nun in der Weihnachtszeit am Théâtre des Champs-Elysées gespielt wird, ist, dass im ursprünglichen comédie-ballet die Musik mindestens so viel Platz einnahm wie das Theaterstück, wenn nicht mehr. „Le Malade imaginaire“ von Jean-Baptiste Molière war 1673 anfänglich eine „comédie mêlée de musique de danses“, ein Theaterstück, mit Tanz- und Ballett-Einlagen, die wesentlich länger waren als der gesprochene Text: ungefähr zwei Stunden Text und fast drei Stunden Musik und Tanz! Denn der „Sonnenkönig“ Ludwig der XIVe liebte es prächtig und bei denen durch ihn bei Molière und Lully in Auftrag gegebenen Stücken tanzten er und der ganze Hof gerne mit. Das wurde auch in Frankreich vergessen, da der immer eifersüchtige Jean-Baptiste Lully 1672 beim König erreichte, dass nur er und niemand anders in Frankreich mit mehr als neun Musikern auftreten durfte und Moliere ab dann ihre gemeinsam erarbeiteten Stücke nur noch ohne Tanz und Musik spielen konnte. Diese überlebten deswegen nur als reine Theaterstücke, bis man ganz vergaß, dass sie ursprünglich etwas noch etwas Anderes gewesen waren. Meines Wissens wurde ihr größter Erfolg, „Le Bourgeois Gentilhomme“ (Der Bürger als Edelmann), 1989 zum ersten Mal nach über 300 Jahren wieder in Paris gespielt, am Châtelet durch William Christie, der mit seinem damaligen Regisseur Jean-Marie Villégier eine bahnbrechende Pionierarbeit geleistet hat. Gleichzeitig hat John S. Powell in den Archiven der Comédie Française die verlorengeglaubte Originalpartitur des „Malade imaginaire“ wiedergefunden, die vorbildlich durch H. Wiley Hitchkock editiert und 1990 durch dasselbe Team in Montpellier und im Châtelet gespielt wurde. Ein sehr besonderer Abend, an den ich mich noch gut erinnere, aber der anscheinend keine Werk-Renaissance einläutete, da er mit über 5 Stunden doch recht lang war. So wird „Le Malade imaginaire“ mit der ursprünglichen Musik von Marc-Antoine Charpentier, der 1672/3 für den abtrünnigen Lully eingesprungen war, trotz einer bildschönen Faksimile Edition bei Minkoff, meines Wissens kaum gespielt. Dies erklärt auch, warum Claude Stratz und die Comédie Française 2001 eine wesentlich kürzere Bühnenmusik in Auftrag gaben bei Marc-Olivier Dupin.

© Christophe Raynaud de Lage

Es war nun ein vergnüglicher Abend, was an dem hervorragenden Schauspieler-Ensemble der Comédie Française lag, der akribischen Inszenierung des inzwischen verstorbenen Claude Stratz (Zürich 1946-2007) und der bildschönen Ausstattung von Ezio Toffolutti, den man in Deutschland meist an der Semperoper in Dresden sieht und dessen Inszenierung & Ausstattung von Massenets „Cendrillon“, von mir 2019 sehr positiv in Nantes rezensiert, noch immer durch Frankreich tourt. Mit den commedia dell’arte-Masken von Kuno Schlegelmilch und der Beleuchtung von Jean-Philippe Roy glaubte man sich manchmal in der zeitlosen und unvergessenen Ästhetik von Giorgio Strehler. Argan, der eingebildete Kranke – bei der Uraufführung am 10. Februar 1673 Moliere selbst, vier Tage vor seinem Tod – wird fulminant gespielt durch Guillaume Gallienne, einer der bekanntesten Schauspieler der Comédie Française, der inzwischen auch eigene Filme dreht und Opern inszeniert („La Cenerentola“ von Rossini 2017 an der Pariser Oper). In der Doppelrolle der beiden Ärzte, Purgon und Diafoirus, steht ihm ein anderes „monstre sacré“ der Pariser Schauspieler gegenüber, Christian Hecq. Beide haben eine solche Bühnenpräsenz, dass man ihnen auch atemlos zuhört, wenn sie gar nichts sagen und nur in den Saal blicken. Deswegen dauerte die Inszenierung auch ungefähr 15 Minuten mehr als vor zwanzig Jahren (damals genau zwei Stunden ohne Pause). Leider haben ihre Kollegen nicht alle diese gleiche Bühnenpräsenz, und so war Julie Sicard – vor zwanzig Jahren noch Argans Tochter Angélique – als die freche und listige Magd Toinette, die eigentliche Drahtzieherin der ganzen Handlung, nicht so überzeugend für uns als die unvergessene Catherine Hiegel in dieser Rolle (sie wurde durch ihre eifersüchtigen Kollegen aus der Comédie Française verjagt und ist nun eine erfolgreiche Regisseurin). Die anderen sieben Schauspieler brauchen wir wohl nicht alle namentlich zu erwähnen.

© Vincent Pontet

An die Bühnenmusik von Marc-Olivier Dupin konnten wir uns kaum erinnern und jetzt verstehen wir auch warum: da gibt es einfach nicht viel zu berichten. Dupin (Paris, 1954) ist ein Tausendsassa, der auch für die Pariser Oper (2008 das Ballett „Les Enfants du Paradis“) und die Opéra Comique komponiert hat (dort drei kleine Werke, die jedoch nie verlegt wurden) und hauptsächlich Film-Musik schreibt. So auch hier: seine Musik unterstützt die Atmosphäre des Bildes, stört nicht, hat aber auch nichts Eigenes. Dass er sich nicht mit der Vorlage beschäftigt hat, sieht man an seinem eigenen Text im Programmheft: er hat sich an Mozart und Strawinsky orientiert um so „in die Fußstapfen von Molière und Lully (sic) treten zu können“. Doch die Original Musik war von Marc-Antoine Charpentier, von der es viele Aufnahmen gibt und die obenerwähnte fac-simile Partitur – die sich Dupin offensichtlich nicht einmal angesehen hat. Was soll man dazu sagen? Dementsprechend gibt es wenig zu berichten über die Musiker, wir haben sie kaum eine viertel Stunde gehört: Jean-Jacques L’Anthoën (Bariton), Jérôme Billy (Tenor), Elodie Fonnard (Sopran), begleitet durch Jorris Sauquet (Cembalo) und Marion Martineau (viola da gamba oder Kniegeige).

Es war trotzdem ein sehr vergnüglicher Abend, was nicht nur an der zurecht erfolgreichen Inszenierung, sondern auch an dem zeitlosen Theaterstück liegt, in dem Jean-Baptiste Molière seiner Aversion gegen Mediziner freien Lauf gab. Im Stück klagt man über diesen „Molière“, der so Schreckliches über sie sagt und den man nur einen baldigen Tod wünschen kann: „qu’il crève!“. Denn Argan ist gar nicht krank – er hat einen prächtigen Appetit – und gib jedoch jeden Monat ein wirkliches Vermögen an Medikamenten aus, die er umständlich direkt in den Hintern bekommt. Deswegen will er seine schöne Tochter zwangsvermählen mit dem „Neffen“ seines behandelnden Arztes, um den jungen Arzt dann kostenlos zur Verfügung zu haben. Bis die listige Magd Toinette auf die Idee kommt, dass er doch am besten selbst Arzt werden könnte. Studieren und Latein bräuchte man nicht wirklich, die paar Fachbegriffe hätte man schnell gelernt und so endet die ursprüngliche „comédie mêlée de musique de danses“ mit einem „intermède“, wo Argan in einem herrlichen, nicht übersetzbaren Küchenlatein zum „Novus Doctor qui tam bene parlat“ ausgerufen wird. Der Saal hat schallend gelacht, denn ohne dass Molière sich dies je hätte vorstellen können, gibt es erstaunlich viele Parallelen zu all den Diskussionen in Frankreich während der Pandemie. 350 Jahre nach der Premiere – und wir sind immer noch da. Ein vergnüglicher Gedanke zum Jahresanfang!

Waldemar Kamer 25. Dezember 2023


Le Malade imaginaire
Jean-Baptiste Molière & Marc-Olivier Dupin

Théâtre des Champs-Elysées, Paris

Besuchte Vorstellung: 22. Dezember 2023

Regie: Claude Stratz
Ausstattung: Ezio Toffolutti
Drei Sänger-Solisten & zwei Begleiter

Bis zum 7. Januar 2024 im Théâtre des Champs-Elysées: www.theatrechampselysees.fr