Paris: „Fausto“, Luise Bertin

„Faust“ auf Italienisch mit „französischer Musik“  

Louise Bertin (1805-1877) ist keine Unbekannte. Ihr Hauptwerk, die spektakuläre „La Esmeralda“ nach „Notre-Dame de Paris“ von Victor Hugo (der eigenhändig das Libretto für sie schrieb), wurde 1836 an der Pariser „Grand Opéra“ gespielt und wird in den letzten Jahren regelmäßig gegeben: 2002 szenisch in Besançon, noch ohne Orchester (es gab vor 20 Jahren nur einen Klavierauszug von Franz Liszt, der die Proben geleitet hatte) und 2008 konzertant in Montpellier mit Chören und Orchester (zu sehen und zu hören auf YouTube). Ein Riesen-Werk so wie die grands-opéras von Meyerbeer. Das war schon ihre fünfte Oper in zehn Jahren. Erst gab es „Guy Mannering“ (nach Walter Scott, 1825), „Le Loup-garou“ (von Scribe, 1827) und den besagten „Fausto“ (nach Goethes „Faust“, 1831). Und nicht irgendwo in Paris: an der Opéra-Comique, der Pariser Oper und am Théâtre-Italien – sie war anscheinend die erste Komponistin, die es schaffte, quasi gleichzeitig an allen drei damaligen Opern in Paris gespielt zu werden. Dass eine so junge und unverheiratete Frau – mit Unterstützung von Liszt und Berlioz – den damaligen Operndirektoren selbstbewusst ihre Werke vorlegen konnte, hatte erst einmal mit ihrer Familie zu tun. Bertins Vater war der Herausgeber des damals sehr einflussreichen Journal des débats politiques et littéraires, das in den Jahren 1825-30 mehrere Regierungen stürzte und mit dem jeder, der irgendwelche Ambitionen in Kunst und Politik in Paris hatte, auf gutem Fuß stehen wollte/musste. Dazu war Louise Bertin zwar körperlich behindert (sie lief wegen Kinderlähmung mit Krücken), aber geistig sehr rege und höchst belesen. Schon 1826 veröffentlichte sie eine „Ultima scena di Fausto“ („Letzte Szene“ ihrer also dann schon vollendeten Oper „Fausto“) und das war zwei Jahre vor der berühmten Übersetzung von Gérard de Nerval (1828), die unter anderem Hector Berlioz zu seinen „Huit Scènes de Faust“ (1829) inspirierte – und eine ganze „Goethemanie“ in Frankreich einläutete. Und ganze 23 Jahre vor dem „Faust“ von Gounod (1849), vielleicht die meist gespielte Oper des 19. Jahrhunderts. Die Entstehungsgeschichte von 1826 bis zur Aufführung 1831 ist komplex: Bei der Edition der Partitur – „Fausto“ wird zum ersten Mal seit 1831 wieder gespielt – stellte man beim Palazzetto fest, dass das ursprünglich französische Libretto ins Italienische übersetzt worden war, damit das Werk an dem Théâtre-Italien aufgeführt werden konnte, und es unzählige Varianten für die Hauptrolle gab, die alternativ für einen Tenor und einen Mezzosopran angedacht war.

Fausto-Schlussapplaus in Paris : Christophe Rousset, sein Spezialisten-Ensemble Les Talens Lyriques & Vlaams Radiokoor. Links und rechts von ihm die beiden Hauptprotagonisten: Karine Deshayes (Fausto) und Ante Jerkunica (Mefistofele). © Gil Lefauconnier

Es gab also viele Kompromisse, die für unsere Ohren erst einmal recht gewöhnungsbedürftig sind: Französische Oper auf Italienisch nach Goethes „Faust“. Denn in der ersten Szene hören wir nicht: „Habe nun, ach! Philosophie, Juristerey und Medicin, Und leider auch Theologie! Durchaus studirt, mit heißem Bemühn. Da steh’ ich nun, ich armer Thor! Und bin so klug als wie zuvor.“ Sondern: „Tutte volsi e rivolsi de’ legisti e filosofi le carte; studiai teologia, pur troppo! Oh quale, qual di tanto sudor frutto raccolsi?“. Auch musikalisch wird man nicht ganz schlau aus dieser „Opera semi-seria en quatre actes“ (italienisches Genre in französischer Form). Die Ouvertüre und viele Rezitative erinnern an Mozarts „Don Giovanni“, manchmal fast wie ein „Pasticcio“ (man erkennt z.B. Leporellos „Katalog-Arie“), gleichzeitig hört man im Orchester Beethoven und den „Freischütz“ durchschimmern, in den Tenor-Arien Rossini und Donizetti und in den großen Chören Meyerbeer. Auch die Titelpartie selbst ist stilistisch und im Ambitus sehr breit angelegt. Karine Deshayes – offensichtlich etwas ermüdet durch die Plattenaufnahme gleich davor – schlägt sich tapfer durch diese riesige Hauptrolle. Da haben es Karina Gauvin (Margarita, stilistisch perfekt) und Nico Darmanin (Valentino, wunderbare cantabile-Arien) wesentlich leichter. Die beste Partie des Abends ist der listige und teuflische Mefistofele, der durch Ante Jerkunica beeindruckend gesungen wird (in Berlin schon als König Marke und in Wien schon als Sarastro zu hören). Neben ihm verblassen Marie Gautrot (Catarina), Diana Axentii (Una strega, Marta) und Thibault de Damas (Wagner, Un banditore) – aber das liegt mehr an den Rollen als an den Sängern. Die musikalische Umsetzung war – wie immer beim Palazzetto – sehr genau und historisch informiert: Christophe Rousset dirigierte mit Verve sein Spezialisten-Ensemble Les Talens Lyriques (ein Extra-Lob für die Bläser mit den so schwierig zu spielenden Naturtrompeten und Naturhörnern!) und den Vlaams Radiokoor. Im Januar kann man sich das alles auf Platte anhören und in einem neuen Buch des Palazzettos sicher viel Interessantes dazu lesen, und es wird eine allererste szenische Fassung geben im Aalto Musik- Theater in Essen (mit Tenor). Wir sind gespannt!

Waldemar Kamer, 26. Juni 2023


Louise Bertin: „Fausto“

Théâtre des Champs-Elysées, Paris

Besuchte Vorstellung: 20. Juni 2023

Musikalische Leitung: Christophe Rousset
Orchester: Les Talens Lyriques
Chor: Vlaams Radiokoor


Beiträge zum Schwerpunkt „unbekannte Komponistinnen“:

„Fausto“, Oper von Luise Bertin

Konzert: „Sieben romantische Komponistinnen“

CD-Box „Compositrices“

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