Paris: Wagner & Stravinski

Das Orchestre National de France gehört zu den Miteigentümern des Théâtre des Champs-Elysées (ihm gehören ein Drittel der Aktien), und sein jetziger Chefdirigent Daniele Gatti entwarf ein interessantes „Doppel-Jubiläumskonzert“ (200 Jahre Wagner & 100 Jahre Sacre du Printemps). Er wies darauf hin, dass bei der ersten Wiedereröffnung des Theaters 1914, die Boston Opera Company Wagner zum ersten Mal in Paris auf Deutsch spielte, unter anderem Parsifal (der erst vierzig Jahre später an der Opéra de Paris in Originalsprache gegeben wurde). Gatti, der letztes Jahr am Théâtre des Champs-Elysées einen unvergesslichen Parsifal auswendig (!) dirigierte, gehört sicherlich zu den besten Wagner-Dirigenten in Paris. Sein Wagner ist – zumindest mit diesem Orchester – sehr französisch und hätte kaum entgegengesetzter sein können als das Wagner-Jubiläums-Konzert vor drei Wochen am selben Ort mit Christian Thielemann und der Dresdener Staatskapelle (siehe Merker 6/2013). Das Programm war vergleichbar: Wagner-Ouvertüren/Vorspiele (Tannhäuser, Lohengrin, Tristan, Meistersinger) und danach ein Stück aus dem XX. Jahrhundert (der Sacre). Doch der Orchesterton war ein völlig anderer: nach dem vollen, „deutschen“, mit prominenten Streichern und Blechbläsern, folgte ein schmaler, „französischer“ Ton, viel filigraner, durchsichtiger und einen Hauch intellektueller. Leider konnte man nicht alle Feinheiten hören, denn ähnlich wie bei der Eröffnung des Theaters 1913, spielte das Publikum eine prominente Rolle. Doch 2013 passierte etwas, was 1913 undenkbar war: der Dirigent unterbrach die Vorstellung und meinte, bei so einem Lärm könne er nicht (auswendig) dirigieren. Er donnerte laut auf mit dem Pilgerchor der Tannhäuser-Ouvertüre (um Ruhe im Saal zu bekommen), das Lohengrin-Vorspiel war wunderbar filigran, doch im Tristanakkord läutete ein Handy (mit dem Walkürenritt!) – und alle Konzentration war hin. Nach der Pause folgte ein Sacre du Printemps der anders klang als alle vorherigen des Jubiläums. Der russischen Inbrunst von Valery Gergiev setzte Gatti eine analytische Lesart gegenüber, ganz ähnlich der berühmten Aufnahme von Pierre Boulez, 1963 im gleichen Theater mit dem gleichen Orchester. Der Sacre sah auch ganz anders aus, denn man hatte den spanischen Zeichner Sagar Forniés gebeten, ihn zu bebildern. So lief also während der Vorstellung auf einer Riesenleinwand hinter dem Orchester ein Zeichentrickfilm (!). Vor unseren Augen entrollte sich eine nie endende Landschaft: erst der Mond mit nur Steinen, eine Unterwasserlandschaft und am Ende ein Vulkan mit zu der Musik passenden Eruptionen. Im zweiten Teil, von Stravinsky „le grand sacrifice“ genannt, folgten wir den Spuren des Menschen auf Erden: von Stonehenge und der Osterinsel, über Persepolis und die Akropolis, bis hin zu der Sphinx und der Venus von Milo. Paris, der Eiffelturm und das Théâtre des Champs-Elysées fehlten auch nicht, und die lange Reise endete schließlich auf einer Müllhalde. Der Abend wurde wie vor hundert Jahren mit lauten Buhrufen beschlossen – worüber sich das Theater sicher gefreut hat. Denn ein kleiner Skandal ist in Paris immer „ein großer Abend“.

Waldemar Kamer / Paris 14.6.2013