Budapest: „Krieg und Frieden“, Sergej Prokofjew

Als Koproduktion mit dem Grand Théâtre de Genève zeigte die Ungarische Staatsoper erstmals Prokofjews Monumentaloper in Ungarn.  Die Produktion hatte in Genf noch vor dem unsäglichen Ukrainekrieg bereits am 13. September 2021 ihre vielumjubelte Premiere gefeiert. Regie führte der Katalane Calixto Bieito. Der Leiter der Astana-Oper in Kasachstan, Alan Buribayev, leitete das Orchester und den von Gábor Csiki bestens einstudierten Chor der Ungarischen Staatsoper. Der Begründer des politischen Theaters, Erwin Piscator (1893 -1966) schlug dem damaligen sowjetischen Komponisten Sergei Prokofjew 1938 vor, Leo Tolstois Roman zu vertonen. Dieser Roman Tolstois wurde zwischen 1865 und 1869 in Fortsetzungen veröffentlicht und spielt während der napoleonischen Kriege (1805 – 20).

Fotos ©Valter Berecz

Mit dem Überfall von Nazideutschland auf die Sowjetunion 1941 erhielt Prokofjew eine neue Anregung zur Vertonung des Stücks. Gemeinsam mit seiner Gattin entwarf er das Libretto und bettete die scheiternde Liebesgeschichte in die Universalgeschichte, das Einzelschicksal tritt zugunsten des Kollektivs in den Hintergrund. Und dennoch bleiben alle Opfer dieses Krieges. Erst nach Prokofiews Tod 1953, er starb am gleichen Tag wie Stalin, wurde die Oper in ihrer finalen Fassung 1959 vom Bolschoi-Theater in Moskau vollständig aufgeführt. In der Oper wird die Lebensgeschichte von vier Adelsfamilien in 13 Bildern aufgezeichnet. Die Fürsten Bolkonsky, Kuragin und Bezukhov sowie die Grafen von Rostow. Die beiden Freunde Andrei Bolkonsky und Pierre Bezukhov lieben beide dieselbe Frau, Natascha Rostova. Doch Andreis Vater, der greise Prinz Nikolai, weist Natascha und ihre Familie grausam zurück, wodurch Natascha den Fängen von Anatole Kuragin, Bruder von Hélène, der Gattin von Pierre Bezukhov, ausgeliefert ist und der sie verführen will. Verzweifelt unternimmt sie einen Selbstmordversuch. Pierre Bezukhov entwickelt infolge der Ereignisse  aufrichtige Gefühle für Natascha. Auf zunehmend surreale Weise werden im darauffolgenden Krieg alle Träume von ersehnter Liebe, Eroberung und Freiheit im Angesicht der Zerstörung in Frage gestellt. Der erste Teil der Oper, der noch in Friedenszeiten spielt, erinnert in musikalischer Hinsicht als Gesellschaftsspiegel noch an den romantischen Tschaikowski, während der zweite Teil als Geschichtschronik in patriotischen Bildern vom schroffen Klangstil Mussorgskis mit seinen ungewöhnlichen Akkordverbindungen und eigenwilliger Instrumentation gekennzeichnet ist.

Fotos ©Valter Berecz

Das von Rebecca Ringst entworfene Einheitsbühnenbild ist dem Boudoir der Maria Alexandrovna, der Gattin von Alexander II., in der Eremitage in St. Petersburg nachempfunden. Die Adeligen sind darin wie im thematisch verwandten Film von Luis Buñuels „Der Würgeengel“ eingekerkert und essen Pizza aus Schachteln. Wenn im zweiten Teil dann der Krieg ausbricht, kippen die Wände, die Decke des Palastes fährt nach oben und der Kandelaber stürzt herab. Napoleon hüllt sich in einen Theatervorhang und erhält aus Bauklötzen die Bolschoi Oper aufgebaut und rasch wieder zerstört. Der katalanische Regisseur Calixto Bieito versuchte in seiner Inszenierung die effektreiche Musik Prokofjews in surreale Bilder zu transformieren. Einige Vertreter der Moskauer Oligarchengesellschaft sitzen zunächst bewegungslos auf Sesseln und Sofas unter Plastikfolien, während eine junge Frau im hellen Kleid darin unschuldig, wie ein Kind herumspringt. Als erster befreit sich Andrej, gefolgt von Natascha und ihre Kusine Sonja. Ingo Krügler entwarf die historisierenden Kostüme. Die Videoeinspielungen gestaltete Sarah Derendinger, das Lichtdesign entwarf Michael Bauer. 28 Sängerinnen und Sänger traten in insgesamt 45 Rollen auf. In den Hauptrollen gefielen Csaba Szegedi als schwärmerisch verträumter Fürst Andrej Bolkonsky, Andrea Brasói-Jőrös als leidgeprüfte Natascha Rostova, Szabolcs Brickner als Sinnsuchender Schwärmer Pierre Bezukhov wohl das Alter Ego Tolstois, der dem Mitgefangenen Platon Karatajew das Genick bricht, István Rács als Marschall Kutusow, der als Besieger Napoleons in der finalen Apotheose wie Stalin gefeiert wird, vor dem ein Kind kniet und dem er über die Haare streicht, Ferenc Cserhalmi als alter Prinz Nikolai Bolkonsky sowie als General Belliard, Zsolt Haja als glücksloser Napoleon, Zoltán Nyári als Hélènes Bruder Anatole Kuragin, Erika Gál als Gesellschaftsdame Hélène Bezukhova, Melinda Heiter als Sonja Rostova, István Kovács als Nataschas Vater Ilja Rostov, Krisztián Csér als Oberleutnant Dolohov sowie als französischer Offizier Jacquot, Péter Balczó als Bauer Platon Karatajew, der halbnackt ähnlich dem Gottesnarren in Boris Godunow in dreckiger Unterhose umherirrt, András Kiss als Oberstleutnant Genyishov, Zoltán Sommer als Hélènes Bruder Anatole Kuragin, sowie Andrea Santó als Nataschas Patentante Maria Dmitrievna und als Schlüsselwächterin der Rostovs, Mavra Kuzhminychna, gesanglich wie darstellerisch in Höchstform.

Fotos ©Valter Berecz

Die Oper wurde um etwa 40 Minuten gekürzt und dauerte dennoch etwa dreieinhalb Stunden. Neu war für mich, dass inzwischen auch eine englisch- und ungarische Untertitelung hergestellt wurde, sodass man bei einigem Glück auch den Text vom leider viel zu tief angebrachten Bildschirm auf dem Vordersitz ablesen kann. Orbans Nationalstolz hat wohl verordnet, dass auf über der Bühne befindlichen Tafel nur mehr die ungarische Übersetzung gezeigt werden darf? Großer Applaus verteilte sich gleichmäßig auf alle Mitwirkenden, das Orchester und den Chor. Und das vollkommen gerechtfertigt. Man kann jetzt nur gespannt darauf warten, dass dieses wichtige Werk Prokofjews endlich auch einmal anderenorts – möglichst ungestrichen – aufgeführt wird!

Harald Lacina, 8. Februar 2023


Krieg und Frieden

Sergej Prokofjew

Ungarische Staataoper

5. Februar 2023

Premiere: 28. Januar 2023

Dirigent: Alan Buribayev   

Orchester der Ungarischen Staatsoper