Budapest: „Lear“

von Aribert Reimann

30.1.16

Das Werkverzeichnis des am 4. März 1936 in Berlin geborenen und vielfach ausgezeichneten Komponisten umfasst neben Orchesterwerken mit und ohne Gesang, Kammer- und Vokalmusik, zahlreiche Bühnenwerke. Darunter befinden sich zwei Handlungsballette („Stoffreste“, „Die Vogelscheuchen“) und insgesamt acht Literaturopern („Ein Traumspiel“, „Melusine“, „Lear“, „Die Gespenstersonate“, „Troades“, „Das Schloss“, „Bernarda Albas Haus“ und „Medea“). Auf Vorschlag von Dietrich Fischer-Dieskau entstand die Oper „Lear“ in zwei Teilen, nach einem Libretto von Klaus H. Henneberg. Die eigentlich für Hamburg vorgesehene Uraufführung fand dann auf Grund des Intendantenwechsels von August Everding am 9. Juli 1978 im Nationaltheater München statt. Mit bislang etwa 25 Neuinszenierungen gehört der „Lear“ zu den meistaufgeführten Shakespeareopern der Moderne. Der „Lear“ stand nun schon lange auf der Wunschliste von Intendant Szilveszter Ókovács, der ein großer Verehrer von Dietrich Fischer-Dieskau ist. Also übernahm er gleich die gesamte Ausstattung der Uraufführung und ließ die ursprüngliche Inszenierung und das Originalbühnenbild des zwischenzeitig verstorbenen Jean-Pierre Ponnelle von Ferenc Anger und Gergely Z. Zöldy, der auch die Originalkostüme von Pet Halmen integrierte, für die Ungarische Staatsoper adaptieren.

Der ehemalige Generalmusikdirektor und Intendant des Aalto-Musiktheaters in Essen, Stefan Soltész, hat den Lear während seiner Amtszeit bereits in Essen herausgebracht. Er konnte daher die extreme Klangsprache von Reimanns Partitur im Wechsel von aufpeitschenden und sich steigernden Clusterschichten mit dunkelsten Klangkaskaden und zarten melodiösen, geradezu beschwichtigenden Passagen, die die Gräuel der Handlung mildern sollen. Knapp 38 Jahre nach der Uraufführung wirkt Reimanns postserielle Musik mit ihrer markanten Führung der Singstimmen in Septimen und Nonen in der Präsentation des Orchesters der Ungarischen Staatsoper durch Stefan Soltész für den Zuhörer nach wie vor unmittelbar intensiv. Freilich darf nicht verschwiegen werden, dass nach der Pause auch einige Sitze leer blieben…

In der Titelrolle war der isländische ehemalige Bassist Tómas Tómasson, der nunmehr einen Wechsel ins Heldenbaritonfach unternommen hat, zu erleben. Er hat diese Rolle bereits in der Saison 2009/10 an der Komischen Oper Berlin und 2012 an der Frankfurter Oper gesungen. Auffallend war, dass er diese Partie offenbar sprachlich noch immer nicht bewältigt, denn sein Akzent war besonders auffällig. Aber auch stimmlich schien er bei der Premiere etwas indisponiert, sodass er sich bei der Bewältigung der „Zick-Zack“-Gesangslinien doch hörbar schwer tat.

Anders seine drei Töchter: Éva Bátori bot eine imponierende Leistung als Gonoril und Szilvia Rálik brachte für Regan die erforderliche Häme und das schrille und kreischende Element, äußeres Zeichen ihres Größenwahns, mit. Beide übertrafen durch ihre stimmlich-gestalterischen wie darstellerischen Ausdrucksmittel bei weitem die Interpretinnen der Aufnahme der Bayerischen Staatsoper aus dem Jahr 1982, Helga Dernesch und Rita Shane. Caroline Melzer, Ensemblemitglied der Wiener Volksoper, hat die Rolle der dritten Tochter Cordelia bereits an der Komischen Oper in Berlin gesungen. Sie konnte daher auch dankenswerter Weise kurzfristig für die erkrankte Eszter Sümegi einspringen und stand mit ihrem leuchtenden Sopran ihren beiden Bühnenschwestern in nichts nach. István Kovács als König von Frankreich und die beiden schwächelnden Ehemänner von Goneril und Regan, die Herzöge Albany und Cornwall, wurden Zsolt Haja und Gergely Ujvári zufriedenstellend dargeboten. Die Grafen Kent und Gloster waren mit dem strahlenden Heldentenor István Kovácsházi und András Palerdi, ausgestattet mit voluminösem Bass, ideal besetzt. Der US-amerikanische Countertenor Matthew Shaw hat den verstoßenen unehelichen Sohn Edgar, der seinem geblendeten Vater, Graf Gloster, als „armer Tom“ den Weg weist, nach zögerlichem Anlauf sowohl mit prägnanter Stimme, als auch spärlich bekleidet besonders intensiv dargeboten. Auch er hat diese Partie bereits in der Saison 2012/13 an der Oper Malmö in Schweden gesungen. Sein böser Bruder Edmund wurde von dem niederländischen Tenor Frank van Aken seiner Rolle entsprechend hinterlistig angelegt. Die Sprechrolle des Narren (bei der Uraufführung in München war es Rolf Boysen) wurde in Budapest von Bariton András Káldi Kiss übernommen. In den kleinen Rollen des Dieners und des Ritters wirkten schließlich noch András Hajdu und Zoltán Frech mit.

Obwohl meiner Schätzung nach etwa 5 bis 10 Prozent des Publikums die Vorstellung während der Pause verlassen hatten, zollte der verbliebene, neuer und bislang in Ungarn ungewohnter Opernmusik seinen Respekt und schenkte allen Mitwirkenden ausgiebigen Applaus. Der Komponist war sichtlich gerührt, wurde vor den Vorhang gebeten und vom Publikum ebenfalls heftig beklatscht.

Harald Lacina 2.2.16

Bilder (c) Péter Rákossy