Aufführung am 12.01.2022
Bereits zum 446. Male öffnete sich der Vorhang zum dritten Bild der Produktion von Franco Zeffirelli – und noch immer begeistert dieses wohl stimmungsvollste Bühnenbild, das wir an der Wiener Staatsoper sehen können. Über diese stimmungsvolle und werkgetreue Inszenierung zu schreiben erachte ich als überflüssig, da sicherlich alle Opernbegeisterten in Wien und dem näheren Ausland diese bereits gesehen haben. Das opulente zweite Bild, die Kostüme – alles passt perfekt (und wenn man bei Minusgraden, die gerade in Wien vorherrschen, dann das Stück ansieht kann man die Kälte und das Elend, das diese Menschen zu erleiden haben, vielleicht noch besser vorstellen).
Was bringt nun jemanden, der das Stück schon wirklich oft gesehen hat und der eigentlich mit geschlossenen Augen in der Oper sitzen kann und trotzdem genau weiß, was sich auf der Bühne genau abspielt, dazu diese – meines Ermessens nach von den Melodien und von der Intensität sicherlich schönste Puccini-Oper – wieder anzusehen? Nun, wie in Wien so üblich, wegen der Besetzung – in meinem Falle wegen Benjamin Bernheim und Clemens Unterreiner. Und ich wurde nicht enttäuscht.
Benjamin Bernheim begegnete ich vor ein paar Jahren, als er den Tamino sang und verfolge seitdem seine Entwicklung mit großem Interesse. Seine Leistung als Rodolfo war schlicht und ergreifend unglaublich… Die Stimme wird schon etwas metallisch (wächst da vielleicht ein Lohengrin heran?), er ist höhensicher, hat ein Timbre, dass mich entfernt an Pavarotti erinnert (ja, entfernt, aber trotzdem..), weiß sich auf der Bühne zu bewegen und trotzte auch den Klangmassen, die die Dirigentin Kim Eun-Sun entfesselte (ich glaube, dass sie die Akustik des Hauses unterschätzt). Das Publikum dankte ihm mit lang anhaltendem Applaus – sowohl nach seiner Arie als auch zum Ende der Vorstellung.
Man könnte jetzt sagen, dass der letzte Direktor Clemens Unterreiner langfristig oder sehr behutsam aufgebaut hat – oder dass erst die aktuelle Direktion ihm zutraut größere Rollen zu singen. Sei es wie es sei, ich finde, dass sein Marcello seine bis dato beeindruckendste Leistung ist. Er hat in den tieferen Registern an Breite gewonnen und meisterte auch die höher gelegenen Stellen der Tessitura ohne Probleme. Ich finde auch, dass er sich vom schauspielerischen Standpunkt her weiterentwickelt hat. Wer ihn schon über viele Jahre lang auf der Bühne gesehen hat merkte, dass er irgendwann zu seinen „Standardposen“ neigte. Hier waren sie kaum zu sehen – ein weiterer Schritt zu einem wirklich „kompletten“ Sänger ist gelungen. Ich hoffe, dass Unterreiner auch weiterhin das Vertrauen der Direktion genießen wird und ihm weitere, größere (und große) Rollen anvertraut werden.
Nicholas Brownlee (nicht verwandt mit dem zur Zeit ebenfalls gastierenden Lawrence Brownlee) debütierte an diesem Abend als Colline. Im Programmheft wird er als Bass-Bariton bezeichnet. Nun, er ist eher ein Bariton. Er spielte sehr gut, fügte sich wunderbar in das Ensemble ein, sang auch technisch auf Linie – allerdings hätte ich mir eine eher dunklere Stimme gewünscht – zu ähnlich war diese im Vergleich zu den Sängern des Marcello und Schaunard. Letztere Rolle wurde an diesem Abend von Martin Häßler interpretiert und es gelang ihm eine wirklich gute Leistung. Bis dato war er mir – in anderen Produktionen – nicht wirklich sonderlich aufgefallen, aber dieses Mal zeigte er, dass er viel Potential besitzt. Man kann mit ruhigem Gewissen sagen dass die Staatsoper, was Baritone betrifft, mit Unterreiner, Schuen und Häßler sehr gut aufgestellt ist.
Marcus Pelz war als Benoit/Alcindor zu sehen, er machte seine Sache ebenfalls gut. Trotzdem erfasste mich eine gewisse Wehmut – zu sehr liebte ich da den unvergessenen Alfred Sramek…
Nicht ganz so glücklich war ich mit den Damen der Schöpfung. Vera-Lotte Boecker spielte sehr gut, sie ist aber nicht der Frauentyp für die Musetta, bei der ich mir eine etwas verspieltere Darstellerin vorstelle. Da fehlte mir das gewissen „Etwas“ – sie ist typmäßig viel besser im „Verratenen Meer“ besetzt (wo sie mir sehr imponierte).
Nicole Car kämpfte besonders vor der Pause mit der Lautstärke des Orchesters – und mit ihrem überragenden Partner, der sie von der Durchschlagskraft und den Emotionen bei weitem übertraf. Allerdings war ihre Leistung ab dem dritten Bild durchaus gut und ihre Mimi hauchte berührend ihre Seele aus…
Wie schon vorher bemerkt ließ Kim Eun-Sun das Orchester oft viel zu laut spielen und deckte die Sänger oft zu. Ich hoffe, dass das in den letzten Vorstellungen besser wird. Sie ließ auch den gewissen Schmelz, den man in dieser Oper doch auch ein wenig braucht, komplett außen vor – aber dies ist vielleicht eine Geschmacksfrage.
Alles in allem war es – dank der Herrenriege – ein überdurchschnittlich guter Repertoireabend, der viel, viel mehr Besucher vertragen hätte. Die Anwesenden dankten allen Mitwirkendem mit starkem und (im Vergleich mit den zuletzt von mir besuchten Vorstellungen) lang anhaltendem Applaus, nicht nur nach dem Ende der Vorstellung, sondern auch beim Ende eines jeden Bildes (die Bohéme wird ja als Oper in vier Bildern beschrieben).
.. und weil ich vorher das „Verratene Meer“ erwähnt habe -> wer verbietet zeitgenössischen Opernkomponisten eigentlich ins Ohr gehende (oder überhaupt) Melodien zu verwenden?!?? Diese findet man heutzutage vor allem in Musicals. Ja, ich finde solche schwelgerischen, melodienreiche Stücke sollten auch heutzutage öfters geschrieben werden.
Kurt Vlach, 14.1.22
Karikaturen und Kurzinhalt (c) Der Opernfreund / Peter Klier