Wien: „La traviata“ (Stream)

Premiere: 7. März 2021

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Fotos: Wiener Staatsoper / Pöhn

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Die Wiener Staatsoper wird langsam eine eigene Garage brauchen – die Autos für „Carmen“ könnten da stehen, und in „La traviata“ wird auch ein Auto auf die Bühne gefahren und noch ein Traktor dazu, die müssen ja verstaut werden! Weil die Regisseure von heute ja so einfallsreich sind und an alte Werke nur glauben können, wenn sie ihren heutigen Senf dazu geben. Autors beispielsweise. It-Girls. Influencer. Und die Sozialen Medien. Was unsere Welt verseucht, muss auch auf die Opernbühne…

Wieder einmal wird man an der Wiener Staatsoper nicht überrascht (erstaunlich, wie schnell und widerspruchslos man sich damit abfindet, unter dem „Premiere“-Signet mit Altem abgefüttert zu werden). Die Opéra national de Paris hatte ihre neue „La traviata“-Produktion nach der Premiere im Oktober 2019 im Kino gezeigt und auch kurzfristig gestreamt. Wieder einmal weiß der interessierte Opernfreund, was er zu erwarten hat – und mag sich gedacht haben, dass hier immerhin Schlechtes ersetzt wird, denn die Inszenierung von Jean-François Sivadier war ein Missgriff der Ära Meyer und hat viele Sänger viel Mühe gekostet, diese Oper halbwegs über die Runden zu bringen.

Aber als viel überzeugender hat man das, was Simon Stone sich ausgedacht hat, auch nicht in „Pariser“ Erinnerung. Nun also in Wien. Es ist wirklich nicht so, dass man etwas gegen Simon Stone hätte, den schweizer Australier (oder australischen Schweizer). Seine „Wildente“ als australisches Gastspiel bei den Wiener Festwochen 2013 (als man dort noch so etwas wie Theater sehen konnte), ließ in seiner Intensität den Mund offen stehen. Seine Inszenierungen von „Medea“ und „John Gabriel Borkman“ am Burgtheater waren zwar ziemlicher Holler, aber mit „Hotel Srindberg“ hat er 2018 eine der besten Aufführungen der Ära Bergmann gezeigt. Allerdings mit einem – nach Strindberg-Motiven – selbst gemachten Stück. Er hat nicht, wie bei „Borkman“, Ibsen der Albernheit preis gegeben, sondern eine doch sehr eigene Vorlage umgesetzt. Aber wenn er nun „Traviata“ zerlegt und mit den Chiffren unserer Zeit wieder zusammen stoppelt – was tut er dann?

Sagen wir doch schlicht und einfach, was wir sehen: Schon zur Ouvertüre flitzen die Social Media-Nachrichten über die Leinwände, volle Action rund um Violette, Verabredung mit Flora, dringliche Nachricht von Dr. Grenvil, sie soll sich melden. Schnitt, Luxusdisco, Party, Party. Trubel. (Kein Abstand, keine Masken – so aktuell werden wir nun wieder nicht.) Da lernt man sich kennen und flirtet sich mit ein bisschen Liebe auf den ersten Blick an, wie es im Buch steht. Dann muss noch eine Auto vorfahren, sonst weiß man nicht, dass man Hier und Heute ist. Kaum zuhause (während Violetta noch ihre Arie singt – tut man das heutzutage?), stürzt sich Alfredo auf den Laptop und schaut, was es von Violetta Neues gibt. Seht her, ein „Follower“! Let’s chat, Violetta!
Lange Pause.

Zweiter Akt: Auftritt Alfredo im Holzfällerhemd und mit Schubkarre, sonst verstehen wir ja nicht, dass sie sich am Land befinden.
Violetta kommt, Arbeitsjacke, Arbeitsstiefel und sichtlich nicht viel darunter (wie wär’s mit einer Arbeitshose, oder ist das alles nur Show?), mit Traktor (!!!), an dem sie ziellos herumfummelt. Außerdem wird mit großem Gepäck herumgewerkelt.
Das Treffen mit Germont ist in diesem Rahmen allerdings schlechtweg lächerlich – wenn er „tanto lusso“ feststellt (wo ist der große Luxus im leeren Niemandsland?) , so fragt man sich schon, was sich der Regisseur gedacht hat. Die Leute singen schließlich auch Text, und der besagt etwas!!!
Dafür erzählen uns die Laufbänder mit den neuesten Nachrichten irgendwas über einen Saudischen Prinzen (???).

Violetta ist erschüttert, dass sie allerdings einen Brief schickt statt eine Nachricht aufs Smartphone ist in diesem Zusammenhang nicht unbedingt sinnvoll. Alfredo und sein Vater stehen herum, aber wie! Wie Ölgötzen. Das soll Personenführung sein? Jetzt erst versteht man, warum die Pause so lange war – der 2. Akt wird nicht, wie üblich, durch eine Pause zerschnitten, sondern weiter gespielt. Die Party findet diesmal vor grellfarbigen, zuckenden Graffiti statt, der Zigeunertanz ist eine Drag-Show (wird dafür ein „junges Publikum“ die Oper stürmen?). Spielen wir Kostümfest? Entsprechend lächerlich Violetta Auftritt mit weißer Perücke in einer Art Nonnengewand (?) – wir sind offenbar am Maskenball, nur Alfredo begnügt sich mit blauem T-Shirt. Die Atmosphäre könnte irrealer nicht sein. Und die grellfarbigen Bilder lassen eigentlich – wenn man es nicht wüsste – kaum erkennen, was hier vorgeht.
Dritter Akt: Sehr viel Zwielicht – so richtig zu erkennen ist nicht, wo man sich befindet, und diesen Akt so zu „verinszenieren“, wirkt unglückselig überbordend – Violetta unter anderen Leuten in einem Krankensessel, Menschen warten hinter einer Absperrung, spielen wir Rätselraten?

Die Projektionen scheinen Feuer zu signalisieren. Ist die arme Person schon in der Hölle? Der Tod in dunkler Einsamkeit ist ihr jedenfalls nicht gegönnt, wenn die Selfies des Paares aus glücklicheren Zeiten hochflashen und alles von Violettas Sterben ablenkt.
Ja, und dann liegt sie im Spitalsbett, Alfredo kommt, wenigstens das Duett darf in Ruhe ablaufen. Ihr Sterben wirkt dann wie das Eingehen in eine andere Welt, Tod und Verklärung in einer Kulissenspalte…

Macht das alles Sinn?

Das liegt jetzt im Auge des Betrachters – wenn man es akzeptiert, dann vielleicht schon. Wenn man das einfach für eine modernistische Spielerei hält, dann ist es minder interessant, sondern nur ein spekulatives Zusammenstückeln von aktuellen Signalen. Vor allem werden die Argumente, man könne Werke von gestern heute nicht mehr verstehen, völlig sinnlos. Jedes Stück hat auch seine Zeit. Wo wäre heute noch ein Vater, der seine Tochter nicht mehr verheiraten kann, weil sein Sohn sich mit einer Influencerin herumtreibt? Wird da die Überlegung, die Geschichte, die noch in einer Zeit sozialer Abstufung spielt, in unsere nivellierte Welt zu versetzen, nicht sinnlos? Aber – wer schert sich noch darum?

Der Abend hat in Giacomo Sagripanti einen Dirigenten, der alles richtig macht, mit Lyrik und Tempo beeindruckt, was eben so nötig ist: So erhält Repertoire ganz unauffällig hohes Niveau. Und es gibt zwei Hauptdarsteller, die das Unternehmen lohnen.

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Nennen wir den Tenor zuerst, denn er ist der Beste des Abends: Juan Diego Flórez hat die „weiße“ Stimme, mit der er sehr lange als Belcanto-Virtuose geprunkt hat, hinter sich gelassen und ist zum weichen schmelzenden Verdi- Liebhaber geworden, der stimmlich und darstellerisch Gefühl verströmt. Liebe und Leid wirken, wie er sie vermittelt, ehrlich und empfunden, er ist Hochform.

Es ist auch die Emotionalität, die an Pretty Yende so überzeugt. Diese Figur, die ihr vom Regisseur dermaßen auf den Leib geschneidert wurde, ist jede Sekunde echt, von dem Party-Girl mit leicht halbseidenem Touch zu Beginn über das Leiden, das man ihr im zweiten Akt (ihr Höhepunkt) bereitet, bis zum tragischen Ende. Sie hat eine wunderbare, leuchtende Stimme, spinnt betörend schöne Phrasen, wenngleich gelegentliches Tremolo und gelegentliches Distonieren nicht zu überhören sind, aber es schmälert den Eindruck nicht.

Die Aufführung versagt, wo es um Germont geht, und man darf angesichts des leblos herumstehenden (und fast ebenso leblos singenden) Igor Golovatenko gar nicht daran denken, welch großartige Charakterstudien man für diese Vaterrolle zuletzt in Wien gesehen hat. Da hat sich der Regisseur die Personenführung für sein zentrales Paar aufgehoben und im übrigen auf der Bühne im ersten, in der zweiten Hälfte des zweiten Aktes und zu Beginn des dritten Aktes einfach so viel Wirrwarr erzeugt wie möglich. Wobei das Bühnenbild, das sich dauernd verändert (Robert Cousins), noch zusätzliche Unruhe durch die steten Lichtspiele erfährt (von den Projektionen ganz zu schweigen). Über die weiteren Protagonisten dieser Aufführung ist nichts zu sagen, weil sie (mit Ausnahme von Donna Ellen als Annina) nicht kenntlich werden.

Nun hat also Wien seine neue „Traviata“, die wieder ein Beispiel dafür ist, dass in unserer Welt die Vorlage an sich nichts mehr zählt, dass sie nur noch „Material“ ist, an der sich Regisseure abarbeiten. Der Zuschauer ist eingeladen, Sinn darin zu erkennen – oder auch nicht.

Renate Wagner 27.3.2020