Premiere: 18.5. 1980, Wiederaufnahme: 10.11.2017
Naja… Manches ist irgendwie bekloppt
„Manchmal können wir etwas nur dadurch klären, dass wir uns dem stellen, was wir nicht wissen. Und manchmal bringen uns die Fragen, die wir haben, zu Erfahrungen, die viel älter sind…“ Großartig, denkt der Kritiker, der noch nie eine Arbeit Pina Bauchs, nur vielsagende Ausschnitte gesehen hat. Er ist neugierig auf eine Expedition in ein Gebiet des Tanztheaters, das er noch nie in dreieinhalbstündiger Länge erkundet hat. Denn, so lesen wir es ja in der Broschüre zur Spielzeit 2017-2018 des „Tanztheater Wuppertal – Pina Bausch“, die „Geisteshaltung Pina Bauschs“ verlange nach „Expedition, Entgrenzung und Wissbegier auf das, was Menschen bewegt“ – soweit die wunderbare Theorie.
Also hinein in die Wiederaufnahme von „1980 – Ein Stück von Pina Bausch“.
Der Titel ist doppelsinnig: ein „Stück“ der Choreographin. Bausch konzipierte „1980“ kurz nach dem Tod ihres Lebensgefährten. Wir (kein Pluralis majestatis, bitteschön, sondern der Tanztheaterrezensent mit seinen Wuppertaler Freunden) erfahren: das Stück ist auch ein Stück Trauerarbeit, das sich Bausch, so nehmen wir an, aus dem Herzen riss. Aber macht man mit dem Herzen schon gute Arbeit? Kunststück: zur Tanztheaterarbeit gehört auch Hand- und Fußwerk. Was wir an diesem Abend – natürlich nur einem von vielen Bausch-Abenden, insofern kaum repräsentativ, wenn auch in vielen Details, Mustern, Bewegungsabläufen und Eigenzitaten vermutlich typisch -, was wir also an diesem langen, langen, langen Abend sehen, ist alles Möglich: doch kaum das, was oben draufsteht: TANZtheater.
Dass am Ende eine hübsche fünf Minuten lange Showeinlage in Form eines Gruppentanzes und zwischendurch eine einsame Frau immer wieder sich streckt und räkelt, dass die Truppe immer wieder zu einer schwungvollen Swingmusik der 30er-Jahre in den Saal hinein- und heraustanzt, macht den Abend noch nicht zu einem Tanzabend. Was wir an diesem langen, langen, langen Abend wahrnehmen, ist ein Schauspiel mit Musik (u.a. von Debussy – „Clair de lune“ -, Benny Goodman, Francis Lai und John Wilson). Es ergreift immer dann – für ein paar sehr wenige, sehr wenige, sehr wenige Minuten -, wenn die Musik mit dem Gestus konform geht. Ich weiß: Es gibt NULL Kriterien für Übereinstimmungen zwischen Musik und Bild, aber ich, als unberufener Bausch-Laie, habe in gerade einmal 15 bis 16 Minuten so etwas wie eine unabdingbare theatralische Logik, so etwas wie Poesie, so etwas wie einen Sinn verspürt, der mich von den allzu billigen Grundaussagen Pina Bauschs weg- und in eine interessante Welt eigenen Rechts hineingeführt hätte.
Denn im Grunde hatten wir den Eindruck, immer wieder quälend lange Minuten in einem Irrenhaus zu sitzen. Gut, wir kapieren, denn wir sind ja nicht doof: Das Leben ist nicht logisch, es ist nicht „normal“, es ist oft hektisch, oft würden wir am liebsten schreien – aber das sog. Leben sollte nicht mit dem sog. Theater verwechselt werden. Wo, es mag nur scheinbar sein, denn es wird ja geprobt, wo also unkonturiert herumgebrüllt wird, wo immer wieder Wiederholungen den Rhythmus bestimmen, wo Dilettantismen zur Kultur erhoben werden, ein Mann am Harmonium ein schlichtestes Kinderlied anstimmt, zu Brahms herrlichem, doch grässlich verkitschtem Guten Abend-Lied eine Frau einem in ihrem Schoß liegenden Mann den Hintern tätschelt, wo eine hysterische Frau mit ellenlangen englischen Monologen über ihre Klamotten etc. den Zuschauer, der geistig nicht unterfordert werden will, schlicht und einfach nervt, wo die Compagnie gruppeninfantil auf Tellern herumkratzt und ein Kerl immer wieder mit dem Leitmotiv einer Suppenterrine die Bühne entert, mag das alles einen zutiefst humanistischen Sinn haben.
Der Kritiker – und der gemeine Wuppertaler Zuschauer, der neben den vielen angereisten Jublern sitzt – findet das alles, pardon, nur bekloppt, mag auch der zweite Teil des Abends ein wenig spaßiger sein und ein wenig mehr Problematik aufweisen, die auch von Leuten verstanden werden kann, die nicht in Pina Bauschs und der Haut der einstigen Tänzer von 1980 steckten. Wenn ein autoritär brüllender Mann im Hintergrund des Zuschauersaals die Tänzer zur Minna macht, indem er sie einem öffentlichen Wettbewerb aussetzt, in dem es um Beine und Ängste geht, kapiert man, was das sog. Theater mit dem sog. Leben zu tun hat. Wenn die Tänzer ihre Operationen und Narbe aufzählen, glaubt man zu verstehen, dass das alles wichtig ist, aber es bleiben kleine Inseln der Bedeutung in einem Meer der Bedeutungshuberei.
Auch diese Sequenz ist, meint der Rezensent, zu lang, um rhythmisch zu funktionieren, oder anders: um ihn insgesamt zu packen. Funken von Rührung und vom Wissen, dass sich die Expedition in irgendein seelisches Gebiet lohnen könnte, bleiben für ihn auf zwei Sequenzen des ersten Teils beschränkt: Wenn ein Vater eine Tochter umkleidet und in einer Abschiedszeremonie sich die einzelnen Tänzer von einer Protagonistin mit den bekannten Abschiedsformeln der bürgerlichen Konventionen verabschieden, bevor die letzte Frau (übrigens erwartungsgemäß) sich mit einer schnellen innigen Umarmung und nicht mit allzu bekannten Worten verabschiedet, gewinnt der Abend plötzlich einen Sog, der verstehbar macht, was die Bühne mit uns zu tun hat. Es liegt natürlich auch an der Musik – denn ein langsamer Satz aus einer Cellosonate von Beethoven und ein Song von John Dowland ist schon so expressiv, dass man darüber noch anderen Käse inszenieren könnte, der auf seine Weise – kraft der Klänge – „funktionieren“ könnte.
Das war es dann schon auch. 90 Prozent des Abends sind dem Rezensenten und den gemeinen Wuppertalern, die sich – das hat offensichtlich Gründe, die man nicht leichtfertig vom Dramaturgentisch schieben sollte – im Grunde wenig für Pina Bauschs Theater interessieren und den Welterfolg der Arbeiten seltsam finden, ein Beweis dafür, dass ein Stück von 1980 ein historisches ist. Mit kollektivem Geschrei (geschmackvoller- und wohl ideologiektritischerweise auf die berühmte und leider leider leider musikalisch hinreissende Nummer aus Elgars „Pomp and Circumstances“ gelegt), mit ridikülen Witzchen, die zu Szenen ausgebreitet werden, ja sogar mit den Kunststücken eines Profizauberers, der immerhin für ein paar Minuten der Spannung sorgen, zeigt „1980“ eine Welt der Willkür. Pina Bausch hat eine lockere Revue entworfen, in die ein paar schöne Entdeckungen hineintropfen.
Für einen surrealen Satz wie „Diese Wiese ist sechs Küsse breit“ muss man ja schon dankbar sein. Selbst die Schauspielerin Silja Bächli, die die Sprechrolle übernommen hat, rettet die Chose nicht – zumindest nicht für den Zuschauer, der ein wenig mehr Konsistenz, ein wenig mehr Spannung, ein wenig mehr Zusammenhang und vor allem: TANZ erwartet. Der ist an diesem Abend so gut wie nicht. „Das sind Tänzer“? Mag sein – aber warum tanzen sie nicht? Warum ziehen sie sich nur aus, schlüpfen immer wieder immer wieder unter Decken, lüften ihre Hintern (war das 1980 wirklich modern??), verrenken sich auf der grünen Wiese und lassen das Rehkitz Rehkitz sein? Eine ironische Rede an einen Stuhl aber ersetzt nicht das TANZtheater. Sie zeigt nur, dass es Pina Bausch auf etwas Anderes ankam. So, wie sie ihre selbsttherapeutischen Bemühungen gezeigt hat, mag es das zum Jubeln aufgelegte Publikum schon zehn Sekunden nach dem Schluss zu Standing Ovations hinreißen, die genauso bekloppt sind wie vieles, was wir an diesem Abend gesehen haben.
Infantil und spannungslos: so haben wir, der Freund des TANZtheaters und ein paar langjährige Wuppertaler Theater- und Musikfreunde und -kenner, über drei Stunden des dreieinhalbstündigen Abends empfunden. Die wenigen Momente, wo ein Sinn, gepaart mit Sinnlichkeit aufschien, erschienen uns nicht genug, um die restliche Zeit dieses Musiktheaterabends zu legitimieren, in dem so viel gezeigt wurde, was unsere Wissbegier partout nicht zu animieren vermochte. Das Stichwort hat übrigens eine der Tänzerinnen gegeben: „Ich will nach Hause.“
Danke, der Rezensent hat begriffen.
Frank Piontek, 12.11. 2017
Fotos © Laszlo Szito, Jochen Viehoff, Oliver Look