Lüttich: „Nabucco“

Vorstellung am 23.10.2016

Das nackte Grauen – aber: Leo Nucci singt immer noch (gut)

Die Opéra Royal de Wallonie gehört zu den kleinen Häusern, in denen ich viele wunderbare, inspirierte Vorstellungen mit vielen ersten Interpreten erlebt habe, zumeist in Produktionen, die nicht weh taten und nicht selten eine angenehme Abwechslung zu allzu verkopften Regietheater-Konzepten waren. Der neue Nabucco indes ist für mich ein katastrophaler Tiefpunkt in szenischer Einfallslosigkeit. Dass das golden glänzende Götterbild bereits auf ein Ausatmen hin langsam in sich zusammenfällt oder dass sich Teile des Chores in ein flaches, das Wasser des Euphrats symbolisierendes Becken zu begeben haben, um den Gefangenenchor anzustimmen, sind nur zwei von einer Handvoll Einfälle, die man keinem Regieassistenten hätte durchgehen lassen dürfen;

sicher aber nicht dem Hausherren Stefano Mazzonis di Pralafera – da nützt es gar nichts, wenn er uns im Programmheft wissen lässt, dass es heute doch eher die Musik Verdis sei, die uns berühre und dass man ihr in dieser Produktion den ihr gebührenden Respekt zollen möchte. Pardon, aber Verdis Partitur nimmt keineswegs Schaden, wenn man versucht, eine plausible Geschichte jenseits von Auf- und Abmärschen, Standardgesten und Rampensteherei in einem mehr als schlichten, vor allem auf hebräische wie babylonische Ornamentik setzenden, unsäglich kitschig ausgeleuchteten Bühnenbild zu erzählen. Verantwortlich ist hier Alexandre Heyraud, technischer Direktor des belgischen Hauses, dessen Mitarbeiter trotz des schwachen Ergebnisses lang und lautstark beschäftigt waren. Die alle Klischees aufgreifenden, üppigen Kostüme von Fernand Ruiz, der der entsprechenden Abteilung seit beachtlichen 37 Jahren vorsteht, werden ebenfalls keinen Preis für besondere Originalität erhalten.

Aber auch musikalisch war dies insgesamt ein schwacher Nachmittag, auch wenn man weiß, dass der Etat des Lütticher Hauses kein üppiger ist. Immerhin hatte er ausgereicht, einen weltberühmten Veteranen für die Titelpartie zu engagieren, und auch wenn die Stimme natürlich nicht mehr die eines 35jährigen oder auch eines 50jährigen ist, so ist Leo Nucci doch eine bemerkenswerte Leistung zu bescheinigen, zumal er auch darstellerisch besonders in den Momenten der Verwirrung anzurühren wusste. Nach wie vor geriet da kein Piano brüchig, keiner der intensiv ausgekosteten Spitzentöne war gefährdet, und so wundert es sich nicht, dass der Bariton 2017, dem Jahr seines fünfzigstes Bühnenjubiläums, den Nabucco wieder an der Mailänder Scala und der Wiener Staatsoper singen wird. Und es spricht für ihn, dass er sich nach dem heftig akklamierten „Dio di Giuda“ mehrfach beim Dirigenten bedankte. Paolo Arrivabeni hatte das Orchester der Königlichen Oper trotz teilweise arg flotter Tempi tatsächlich ziemlich gut im Griff, und ich mochte auch seine eher unaufdringlich-diskrete, jeden reißerischen Effekt vermeidende Lesart der Partitur, die dazu führte, dass auch der von Pierre Iodice s geleitete Chor mit einer schlichten Wiedergabe des Gefangenenchores punkten konnte, in die übereifrige Zuschauer nicht hätten hineinklatschen müssen.

Dieses Niveau hatten die Interpreten der anderen Hauptrollen leider nicht: Die Argentinierin Virginia Tola scheiterte wie so viele (und prominentere) Sängerinnen in der langen Aufführungstradition an der vertrackten, enorme Durchschlagskraft in allen Lagen und gleichzeitig immense Beweglichkeit erfordernden Partie der Abigaille. Stattdessen war man mit unangenehm forcierten und dann (nicht überraschend) gern zu tiefen, überlauten Acuti, schlampig oder gar nicht ausgeführten Fiorituren und einer steifen, uneleganten Gesangslinie konfrontiert – von einer vokalen wie interpretatorischen Durchdringung der Rolle konnte hier kaum die Rede sein. Wie viel angenehmer klingt die Stimme in der Mittellage und im Piano, wie passender wären weniger dramatische Aufgaben – die Künstlerin und/oder ihre Agentur sehen es offenbar anders. Und irgendjemand muss ihr sagen, dass das abrupte Ausstrecken der Oberarme keinen Ausdruckswert hat, sondern schlicht hilflos aussieht und die übrigen Mitwirkenden unnötig gefährdet.

Ein Totalausfall war Orlin Anastassov, dessen weit ausschwingender, trockener Bass trotz des jugendlichen Alters des Sängers wie die Stimmreste eines in die Jahre gekommenen Choristen klang, den man aufgrund einer Gefälligkeit noch einmal einen Auftritt als Zaccaria verschafft hat. Besonders in der Höhe stimmte hier kaum ein Ton. Ordentliche Leistungen steuerten nur Giulio Pelligra, der mit hellem, prägnanten, legatostarken Tenor den Ismaele gab, und Na’ama Goldman bei, die als Fenena einiges Format entwickelte und die man gern in größeren Partien erleben möchte. Roger Joakim zählt zum Urgestein der Lütticher Oper und steuerte einige müde Töne als Gran Sacerdote di Belo bei, Anne Renouprez hat eine zu kleine Stimme, um wenigstens in den Ensembles mit einigen fulminanten Spitzentönen nachhaltig auf ihre Mitwirkung als Anna hinweisen zu können, Papuna Tchurdaze schließlich fiel als Abdallo kaum auf.

Thomas Tillmann 24.1016

Bilder (c) Oper Lüttich