Lüttich: „Luisa Miller“

Vorstellung am 07.12.2014 (Dernière), Premiere am 26.11.2014

Liebe – Intrige – Gift

Das von Friedrich Schiller ursprünglich „Luise Millerin“ genannte „bürgerliche Trauerspiel“ spielt im Spannungsfeld von Adel und Bürgertum und thematisiert arrangierte Heiraten, Bösmenschentum, Willkür, Kapitalverbrechen aus Gier und Machtstreben, Ehre und noch mal Ehre, schließlich aber nicht zuletzt Liebe, Verzweiflung, Tod in religiösem Glauben. Den Zwängen eines jeden Opernlibrettos folgend mussten Verdi und sein Librettist Salvatore Cammarano für die Oper „Luisa Miller“ recht drastische Textkürzungen und Streichungen von Personen vornehmen (von Kalb und Mutter Miller entfallen) und deuteten die Rolle der Lady Milford in die der Herzogin Federica um. Dabei wurde auch die Logik der Handlung in einigen Teilen verändert und gestrafft. Auch aus Gründen der Zensur wurde der Fokus des ursprünglich mehr politischen Dramas des Stürmers und Drängers Schiller zu einer Familientragödie hin verschoben. Aber die oben genannten Themen des Stücks, die dieses bedrückende Trauerspiel ausmachen, findet man durchweg wieder. Einmalig im Verdi-Oeuvre und wahrscheinlich in der gesamten italienischen Opernliteratur ist die Personalkonstellation: drei (stimmliche) Finsterlinge gegen ein Liebespaar. Mit Luisa Miller wich Verdi (wieder einmal) von den ausgetretenen Pfaden der Operntradition ab, was ihm die Zuschauer nicht dankten. Die Oper führte lange ein Schattendasein in den Spielplänen; aber anlässlich des Verdijahrs 2013 besann man sich insbesondere der frühen und mittleren Verdi-Opern, und so kam es auch zu einem stark erhöhten Interesse an Luisa Miller, und das völlig zu Recht. (So kam die Luisa Miller sogar zeitgleich in Aachen heraus.)

Gregory Kunde (Rodolfo), Patrizia Ciofi (Luisa)

Liebe, Bosheit und Tod sind keine Exklusivprodukte des 18. Jhdts. Kein Wunder, dass Regisseure bei der Luisa entweder abstrahierend vorgehen oder sie in eine gegenwartsnähere Epoche schieben. Letzteres tut auch der französische Regisseur Jean-Claude Fall. Er verlegt die Handlung aus dem Österreich des Absolutismus in die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Der gesellschaftliche Gegensatz ist nun nicht mehr der von Adel und biederen, ehrlichen Bürgern, sondern der des superreichen Besitzbürgertums und der bescheidenen Arbeiterklasse. Der Konflikt entsteht nicht auch aus dem Standesunterschied, sondern allein aus dem Gegensatz der Interessen. Man sieht Walter als Boss in seinem Büro in einem alten Industriegemäuer; zur Durchsetzung seiner Pläne bedient er sich mafiöser Strukturen, die nicht vor Verbrechen zurückscheuen. Jean-Claude Fall selbst schreibt im Programm, dass er sich auf die Zeit der faschistischen Machtergreifung in Italien bezieht, wodurch sich Willkür und Gewalt nicht auf die Mafia, sondern auf die Schwarzhemden beziehen, was ja nicht so weit entfernt ist. Für alle die, die auf der Bühne keine Grafen und Herzoginnen und historische Kostüme sehen müssen, ist die Arbeit von Fall in sich geschlossen und logisch und reibt sich nicht am Text. Es passen sowohl das Regiekonzept als auch die Charakterisierung der Personen.

Gregory Kunde (Rodolfo), Patrizia Ciofi (Luisa), Nicola Alaimo (Miller)

„Liebliches Dorf“ (armeno villaggio) heißt es für das Bild der ersten Szene im Libretto. Der Bühnenbildner Gérard Didier stellt hierfür eine einfache helle etwas geneigte Spielfläche mit zwei schlank aufragenden Bäumen zur Verfügung; hinten sind ein paar Felsen angedeutet, ganz hinten geht es hinunter: als ob man sich auf einer Terrasse im Gebirge oberhalb einer Ortschaft befindet. Der Chor der Landleute in etwas abgehärmter einfacher Kleidung der 20er Jahre quillt von hinten herauf und stellt sich in Positur. Miller und seine Tochter Luisa dialogisieren vor dem Chor. Da wuseln auch noch vier kleine Kinder auf der Bühne herum und verstecken sich mal hier, mal dort, um „den Großen“ und ihrem Tun gebannt zuzusehen. Das ist ein kleiner Verfremdungseffekt einer sonst sehr nah am Libretto verlaufenden Inszenierung.

Zum zweiten Bild wird die Spielplattform von einer (sichtbaren) Hydraulik nach oben in die Vertikale geklappt. Es soll wohl Industriearchaik gezeigt werden. Dadurch erscheint ein finsterer Industriebau aus Backsteinen zwischen dunklen Stützen. Bei offener Szene wird dazu schnell das Mobiliar von Walters Arbeitszimmer eingeräumt: zwei Stühle, ein Schreibtisch. Graf von Walter in Manager-Kluft hält hier mit Wurm (langer schwarzer Mantel) und seinem Sohn Rodolfo Hof und versucht, mit der Allgewalt des Patriarchen alles in seinem Sinne zu lenken („Gehorche … Mein Wille ist Gesetz.“), vor allem natürlich die Hochzeit Rodolfos mit der Herzogin Federica. Die kommt gerade mit sehr viel Reisegepäck an; das Personal in schwarzen Kleidern und weißen Schürzen bildet eine lange Reihe beim Gepäcktransport. (Kostümentwurf: Agostino Cavalca). Im dritten Bild, zu welchem die Hinterwand wieder heruntergeklappt wird, stehen sehr viel mehr Bäume auf der Bühne, denn nun geht es zur Jagd. So geht es mit den Szenenwechseln weiter: gewissermaßen eine Klappbühne; ganz geschickt! Zur finalen Szene beim Tode von Rodolfo und Luisa (und auch dem des erschossenen Wurm) befindet man sich wieder auf der Spielfläche; zum Zeichen des Endes stehen nun keine Bäume mehr hier, sondern auch die Bäume sind gefällt (wie der erschossene Wurm) zwei große nackte Stämme liegen diagonal auf der Szene. Man kann nicht anders sagen, aber Regiekonzept und Szenographie gingen voll auf. Ganz am Ende sitzen die vier Kinder vor dem gefallenen Vorhang und klatschten Beifall: ob sie alles verstanden hatten?

Luciano Montanaro (Il conte di Walter), Gregory Kunde (Rodolfo), Patrizia Ciofi (Luisa), Nicola Alaimo (Miller); Chor

Aber nicht so die Bewegungsregie. Es wurde grundsätzlich an der Rampe gesungen; die Chorführung war bis auf eine einzige gelungene Szene (als der schon bühnenpräsente Chor auf der Hinterbühne hinter einem Schleiervorhang herausgeleuchtet wurde) ungekonnt und statisch: „Hier stehen wir, wir können nicht anders“! Mehrere Chorauf- und Abmärsche und Aufstellungen wirken einfach zu steif. Bei den Ensemble-Gesängen standen die Solisten meistens symmetrisch an der Rampe. Da das Haus nicht so groß ist und die Sängerstimmen überwiegend gewaltig waren, hätte man hier den Solisten ruhig etwas mehr zumuten können. Allerdings muss man zugestehen, dass mit Anziehen der Handlung im zweiten (Verdischen) Akt auch die Bewegungen auf der Bühne etwas zwingender wurden und im dritten Akt sogar Spannung von der Personenführung ausging, so dass es zu einem wirksamen und eindringlichen Ende der Oper kam. Der letzte Eindruck bleibt immer der stärkste!

Gregory Kunde (Rodolfo), Alexise Yerna (Laura), Patrizia Ciofi (Luisa); Chor; Kinderstatisten

Als das am „wenigsten lärmende“ unter Verdis Jugendwerken bezeichnete der italienische Musikologe Abramo Basevi seine Luisa Miller. In der Tat, für kaum eine andere Oper Verdis passt das Schlagwort „Übergangswerk“ so gut wie auf die Luisa Millerin. Schillers Sturm und Drang ist noch in dieses Auslaufen der der nationalen Phase Verdis eingeflossen; aber in dem kraftvollen (lärmigen) Schwarz-Weiß des Orchesters, lassen sich schon Schmelz, Lyrik und Innigkeit der Trilogia (natürlich vor allem in der Person Luisas) vorherahnen. Massimo Zanetti am Pult des prächtig aufspielenden Orchestre de l’Opéra de Wallonie erläutert diese spezielle Tinta des Werks schon in der Ouvertüre, wo die feinziselierten von Holzbläsern getragenen Eingangspassagen von gewalttätigen Tutti überrollt werden, wie in der Oper das Böse über die harmlose Liebe des Paars Luisa-Walter hereinbricht. Das Orchester folgte Zanetti in feiner, präziser Pianokultur, getragenen satten Streichergrundierungen und krachenden Bläsereinsätzen. Natürlich fehlen auch die stereotypen Verdischen Begleitformeln nicht; aber bei Zanetti klingen sie kultiviert. Seine Dynamik war auch auf die Kraft der Gesangssolisten gut abgestimmt, die er teilweise forderte, teilweise aber auch trug. Marcel Seminara hatte den großen Opernchor einstudiert, dessen dramatische unisono-Wirkung, Stimmkraft und Präzision nicht zuletzt wegen der szenischen Unterforderung bestens zur Geltung kamen.

Nicola Alaimo (Miller); Patrizia Ciofi (Luisa), Gregory Kunde (Rodolfo)

Die zarte Patrizia Ciofi stand einem stimmgewaltigen Männerquartett gegenüber, das in den Ensembles Rücksicht auf sie nahm und so meistens das Klanggleichgewicht wahren konnte. Die Luisa verkörperte sie als zarte, zerbrechliche Figur neben den männlichen Kolossen, zwischen denen sie aufgerieben wurde. Die Ciofi zeigte eine gut ansprechende Stimme mit ganz warmer Farbgebung im Brustregister, und obwohl zunächst etwas flackernd in der voix mixte, gewann sie hier im Verlauf mehr Fokus und stieg zu klaren leuchtenden Höhen auf, immer mit ordentlichem warmem Nuancierungsvermögen und für einen Sopran sehr ordentlicher Textverständlichkeit. Von schier unerschöpflicher Kraft zeigte sich Gregory Kunde als Rodolfo. Sicher hätte er nicht dauernd so forcieren müssen und dynamisch mehr differenzieren können, aber Tenoristen singen eben auch gern auf Publikumswirkung. Nie hatte man den Eindruck, dass er mit seinem mittel-timbrierten bronzenen Tenor von großer Höhensicherheit an die Grenze gehen musste, kaum Patina am tenoralen Schmelz. Eigenartig war indes die Aufmachung und Führung des Rodolfo; er war wie eher wie ein Abbild seines Vaters gekleidet, hätte wegen zu großer Behäbigkeit den Zorn seines Vaters erwecken können, tat das aber nicht als „Hitzkopf“ (esaltato capo) als welchen ihn Wurm gegenüber seinem Vater bezeichnete. Das war wohl von der Regie so gewollt: eine ziemlich schwache Person! Luciano Montanaro überzeugte von Statur und Stimme als Conte di Walter vor allem mit einer noblen Tiefe, allerdings etwas matten und nicht immer ganz kontrollierten hohen Tönen. Mit Nicola Alaimo stand ein Miller auf der Bühne, der über einen größeren stimmlichen Facettenreichtum verfügte: stimmgewaltig und von körperlicher Wucht in mittleren und tiefen Lagen und mit elegant kultivierten Höhen. Eine bessere Besetzung des Wurm als mit Bálint Szabò kann man sich schlichtweg nicht vorstellen. Nicht als wendigen Verräter und Schleicher, sondern als geradlinigen Vertreter des Bösen gestaltete er den Verwalter mit der schwarzen, fast hohlen Tiefe seines kraftvollen Basses. In ihren zwei Szenen glänzte Christine Melis als Federica mit ihrer Bühnenerscheinung und der hinreißenden Färbung ihres gut fokussierten Mezzos. Mit Alexise Yerna als Laura und Stefano de Rosa als Bauer waren auch die kleinen Rollenadäquat besetzt; letzterer wurde von der Regie als Handlanger von Wurm charakterisiert.

Ovationen und lang anhaltender Jubel für alle Beteiligten.

Manfred Langer, 08.12.014
Fotos: Jacky Croisier