Stuttgart: „Lohengrin“

Besuchte Aufführung: 13.1.2020 (Premiere: 29.9.2019)

Gesellschaftsparabel im Dunkeln

In teilweise neuer Besetzung ist an der Staatsoper Stuttgart Wagners Lohengrin wieder aufgenommen worden. Und wieder war es ein voller Erfolg. Die Aufführung vermochte rundum zu überzeugen. Das begann schon bei der gelungenen Inszenierung von Árpád Schilling in dem Bühnenbild von Raimund Orfeo Voigt und den Kostümen von Tina Kloemken. Das Regieteam präsentiert keine märchenhafte, konventionelle Deutung, sondern wartet mit einer durch und durch modernen Interpretation auf. Gekonnt begibt sich Schilling auf ein gesellschaftskritisches Terrain und beleuchtet in überzeugender Art und Weise die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen dem Volk und einem Machthaber.

Simone Schneider (Elsa), Staatsopernchor

In erster Linie interessiert den Regisseur der Zustand der Gesellschaft. Kann sie sich halten oder muss sie letzten Endes zerbrechen? In jedem Fall benötigt die Gemeinschaft dringend eine Führungsperson, um ihre Ziele zu erreichen. Solchen Führungspersonen misstraut der aus Ungarn stammende Schilling aber grundsätzlich. Vielleicht intendiert er mit seinem Ansatzpunkt einen Seitenhieb auf Victor Orbán. Ausgeschlossen ist das jedenfalls nicht. Das Ganze ist sehr pessimistischer Natur. Regisseur und Bühnenbildner lassen die Handlung in einem stets dunkel ausgeleuchteten, leeren und in einen Schlund mündenden Einheitsraum spielen. Dieser wird lediglich durch die Aktionen der Handlungsträger definiert. Der Zuschauer sieht sich mit einem Theater der Reduktion auf der Ebene des Visuellen konfrontiert, in dem Brechts kaukasischem Kreidekreis, der zum Kampf zwischen Lohengrin und Telramund auf den Boden gezeichnet wird, zentrale Relevanz zukommt. Schilling scheint Brecht sehr zu schätzen. Der Schwerpunkt liegt auf Verfremdung, die ursprüngliche romantische Sage spielt keine wesentliche Rolle mehr. Essentiell sind, wie gesagt, kollektive Mechanismen, die nicht zuletzt durch die ansprechenden Kostüme aufgezeigt werden.

Simone Schneider (Elsa)

Zu Beginn hat die Gesellschaft ihren Halt verloren und einen hohen Grad an Feigheit entwickelt. Sie weiß nicht mehr, welchen Weg sie einschlagen muss. Ihre Existenz wird von negativen Gefühlen bestimmt. König Heinrich ist seinen Untertanen dabei keine große Hilfe. Der Regisseur deutet ihn als schwachen Herrscher, der mit seiner Aufgabe in Zwiespalt steht und sein Amt lieber aufgeben würde. Auch Telramund ist nicht der geeignete Kandidat für die Staatsführung. Die Brabanter sind sich bewusst, dass das Elsa zugefügte Unrecht abgewendet werden muss. Das unentschlossene Volk wagt indes nicht, selbst die Initiative zu ergreifen. Ihm bleibt als letzte Möglichkeit nur, aus sich selbst heraus eine Art Heilsbringer zu gebähren, der wieder alles ins Lot bringen soll. Lohengrin erscheint hier mithin nicht als ein von einer höheren Macht gesandter Auserwählter. Vielmehr wird er aus der Mitte der Gemeinschaft rekrutiert. Zuerst hat er nicht gerade viel Lust, der ihm auferlegten Aufgabe nachzukommen. Seinem Versuch, sich erneut in die Gesellschaft einzugliedern, ist kein Erfolg beschieden. Ohne Gnade wird er von der Masse wieder nach vorne gestoßen. Letzten Endes bleibt ihm nur noch übrig, sich zu fügen – wenn auch nur widerwillig. Der von der Regie stark und selbstbewusst gezeichneten Elsa übergibt er bei seiner Ankunft einen Spielzeugschwan. Gottfrieds Schicksal scheint ihm nicht unbekannt zu sein. Die darob sehr erschrockene Ortrud bemerkt dies und trägt Sorge, enttarnt zu sein. Das Gottesgericht zwischen Lohengrin und Telramund interpretiert Schilling nicht als echtes Duell. Es erschöpft sich in einer Ohrfeige, die der neue Führer seinem Gegner gibt. Dies ist als Absage der sich um Lohengrins Seite des Kreidekreises sammelnden Brabanter an ein altes System zu verstehen.

Shigeo Ishino (Heerrufer), Staatsopernchor

Hat sich dadurch aber etwas geändert? Zumindest hat es den Anschein – aber nur zuerst. In der am Anfang in grauen Einheitslook gekleideten Männergesellschaft haben auf einmal auch die Frauen etwas zu sagen. In dem Gralsritter haben sie einen Verteidiger ihrer Sehnsüchte und Wünsche gefunden, der der patriarchalischen Ausrichtung der Gesellschaft eine strikte Absage erteilt und auch das weibliche Geschlecht sich an der Politik beteiligen lässt. Als äußeres Zeichen dafür legen die Frauen bunte Kleider an und entledigen sich schließlich auch die Herren der Schöpfung ihrer grauen Gewänder. Die Männer sind zu Beginn des dritten Aufzuges ebenfalls unvermittelt in abwechslungsreiche farbige Outfits gewandet. Auf diese Art und Weise öffnet sich der Weg von der Anonymität des Kollektivs zu individueller Freiheit. Die Frauen erringen eine Kraft, wie sie auch Elsa aufweist. Mit ihr zusammen kreieren sie in der Münsterszene einen Fluss aus blaufarbenen Mänteln, der später mit leblosen Schwänen garniert wird. Mit diesem Einfall will der Regisseur laut Programmbuch ihre Fähigkeit ausdrücken, sich etwas vorzustellen, das die Realität transzendiert, in einer miserablen Lage nicht so sehr in den Traum zu fliehen als vielmehr dank ihm zu überleben.

Simone Schneider (Elsa), Okka von der Damerau (Ortrud), Staatsopernchor

Der Gral ist bei Schilling eine Utopie, eine Wunschvorstellung, die sich als Inbegriff des Guten in dieser Welt nicht durchzusetzen vermag. Ersichtlich wird, dass es eben nicht nur Hehres auf der Welt gibt, auch negative Aspekte machen sich breit. Lohengrin weist hier ebenfalls eine böse Seite auf. Das wird insbesondere in der Brautgemachszene offenkundig, in der er ganz unnötigerweise den unbewaffneten Telramund tötet. Der brabantische Graf ist in dieser Produktion von Anfang an das Opfer der ganzen Entwicklung. Seine Absicht ist nicht, Lohengrin umzubringen. Er bemüht sich nur, die Situation, die er vorfindet, zu begreifen. Ihm wird klar, dass die Beziehung zwischen Elsa, die er früher einmal geliebt hat und vielleicht sogar immer noch liebt, und Lohengrin auch nicht funktioniert. Gleichzeitig erkennt er, dass er einen Fehler gemacht hat, als er Ortrud vertraute. Konsequenterweise fühlt er sich nun als Sieger. Er kann sich seines Triumphes indes nicht lange freuen. Er wird von dem Schwanenritter mit dem Messer der von gegenüber Telramund mit Rachegelüsten beherrschten Elsa kurzerhand um die Ecke gebracht. Diese Tat lässt Lohengrin nicht unberührt. Allein und mit sich selbst im Unreinen verfällt er während der Verwandlungsmusik des dritten Aufzuges in tiefe Verzweiflung. Er hat erkannt, dass er eine dunkle Seite in sich trägt. Diese lehnt er aber rigoros ab und sehnt sich nach dem Guten. Diese Erkenntnis verbunden mit der Sehnsucht nach dem Heil manifestiert sich in der Gralserzählung, die er auf dem Bett sitzend singt. Am Ende muss er die Gesellschaft verlassen. Seine abschließenden, den neuen Herzog von Brabant betreffenden Worte sind bei Schilling nicht an den hier nicht in Erscheinung tretenden Gottfried gerichtet, der wirklich tot ist – dieser Aspekt ist eine Grundvoraussetzung der Regie-Konzeption -, sondern an einen x-beliebigen Mann aus dem Volk, der von der überlebenden Ortrud kurzerhand als neuer Verantwortlicher für die Geschicke der Brabanter inthronisiert wird. Diesen ist der Verlust Lohengrins gar nicht recht. Drohend nähern sie sich Elsa, die sie für ihre Misere verantwortlich machen. Das war alles recht überzeugend. Insgesamt haben wir es hier mit einer klugen, spannenden Produktion zu tun. Lediglich der Chor blieb zeitweilig etwas zu statisch.

Simone Schneider (Elsa), König Heinrich, Okka von der Damerau (Ortrud), Staatsopernchor

Gesanglich bewegte sich die Aufführung auf hohem Niveau. In der Partie des Lohengrin war Daniel Behle zu erleben. Dieser Sänger, der bei den vergangenen Bayreuther Festspielen noch als David glänzte, scheint z. Z. einen Fachwechsel zu vollziehen. Und dieser scheint zu gelingen. Mit gut gestütztem, höhensicherem, farbenreichem und zu schönen Piani fähigem Tenor zog Behle alle Facetten des Gralsritters, den er auch überzeugend spielte. Auf seine weitere Entwicklung kann man gespannt sein. Eine phantastische Leistung erbrachte Simone Schneider, die sich mit in jeder Lage hervorragend fokussiertem, warmem, differenzierungsfähigem und in der Höhe prächtig aufblühendem kraftvollem Sopran bester italienischer Schulung in die vorderste Reihe der Elsa-Interpreterinnen sang. Irgendwann wird diese hochbegabte Sängerin vielleicht auch im hochdramatischen Fach landen. Das Zeug dazu hätte sie. Einen vorzüglichen Eindruck hinterließ Okka von der Damerau, die mit ebenfalls vorbildlich im Körper sitzendem, nuancenreichem und ausdrucksstarkem Mezzosopran die Ortrud sang. Neben ihr war Simon Neal ein tadelloser, mit prägnantem Baritonmaterial aufwartender Telramund. Als Heinrich der Vogler hatte der junge David Steffens zu Beginn des Gebets einmal Schwierigkeiten. Da rutschte ihm leider die Stimme aus der Fokussierung. Abgesehen davon gab er einen recht soliden König. Ein stimmkräftiger, sonorer Heerufer war Shigeo Ishino. Von den vier Edlen gefielen Andrew Bogard und Jasper Leever besser als Torsten Hofmann und Heinz Göhrig. Mit immenser Klangpracht wartete der von Manuel Pujol einstudierte Staatsopernchor Stuttgart auf.

Am Pult setzte GMD Cornelius Meister zusammen mit dem bestens disponierten Staatsorchester Stuttgart auf einen nicht zu lauten, warmen und getragenen Klangteppich, der zudem recht intensiv war und viele Nuancen aufwies. Dass im dritten Aufzug ein immenser Strich gemacht wurde, war etwas schmerzlich. Wagner sollte ungekürzt aufgeführt werden.

Fazit: Eine sehr empfehlenswerte Aufführung, die jedem Opernfreund wärmstens empfohlen werden kann!

Ludwig Steinbach, 13.1.2020

Die Bilder stammen von Matthias Baus