Landshut: „Alcina“

Premiere: 3. 10. 2014

Star Trek in der Oper

Sie gehört zu den meistgespielten Werken Georg Friedrich Händels: „Alcina“, die jetzt am Theater Landshut ihre gelungene Premiere feierte. Barock-Opern haben am Landestheater Niederbayern eine lange Tradition. Jedes Jahr steht eine auf dem Spielplan. In den letzten Spielzeiten machten insbesondere der Monteverdi-Zyklus und die Ausgrabung von Conradis „Schöner und getreuer Ariadne“ auf sich aufmerksam. Mit der „Alcina“ ist dieser Barock-Reigen jetzt fortgesetzt worden. Leider kam es kurz vor dem Ende zu einer Störung. Von einer im Gebäude neben dem Theaterzelt stattfindenden türkischen Hochzeit ging ein nicht enden wollendes, strapazierendes, nervtötendes Klopfen aus. Die Vorstellung musste deshalb kurz vor Schluss für einige Zeit unterbrochen werden. Nach ca zwanzig Minuten hatte der Lärm dann endlich ein Ende und die Vorstellung konnte zu Ende gebracht werden.

Gesche Geier (Alcina)

Die am 16. April 1735 im Londoner Covent Garden Theatre aus der Taufe gehobene, auf dem sechsten und siebten Gesang von Ludovico Ariostos im Jahre 1516 entstandenen Epos „Orlando furioso“ beruhende „Alcina“ stellt einen der größten Erfolge Händels dar. Von vielen Musikkennern wird sie für seine beste Oper gehalten, was durchaus nachzuvollziehen ist. Vergleicht man die „Alcina“ mit den anderen in dieser Zeit entstandenen Werken der Opernliteratur, wird offenkundig, wie sehr der Haller Komponist hier die herkömmliche Opera Seria weiterentwickelt hat. Die trocken anmutenden Secco-Rezitative hat er auf ein Minimum reduziert und die einzelnen Musiknummern nicht nur einmal unmittelbar aufeinander folgen lassen. Daraus resultiert eine stärkere Geschlossenheit des Werkes. Die traditionelle da-capo-Arie mit ihrer A-B-A-Form ist vielfältigen Variationen unterworfen. Schon aus dem Grund wirkt sie hier viel interessanter als in den Opern anderer Tondichter des 18. Jahrhunderts, weil sie oft nicht der Selbstreflexion der singenden Person dient, sondern sich direkt an einen anderen Beteiligten richtet, dessen Präsenz in der Arie vorausgesetzt wird.

Die Wiederholung des A-Teils weist häufig eine andere Einfärbung auf, gleich ob situativer oder emotionaler Art, als bei seinem ersten Erklingen. Das Ganze mutiert zu einer Aktionsarie, wie man sie aus späteren Zeitaltern der Musikgeschichte kennt. Daneben gibt es – auch das war im Jahre 1735 neu – zahlreiche Duette, Terzette und Quartette, in denen das Geschehen in gleicher Weise vorangetrieben wird wie in den herkömmlichen Secco-Rezitativen. Das stellte damals eine ganz grundlegende Neuerung dar. Händel hat hier wegweisend ein neues Terrain betreten und sich ebenso wie Gluck als Reformator der Oper betätigt. Er begann, die Formenstarrheit der Opera Seria zu durchbrechen und ihr den Weg in eine neue musikalische Ära zu ebnen. Die Musik der „Alcina“ ist vielschichtig und abwechslungsreich, zeitweilig markant, an anderen Stellen aber auch sehr emotional gehalten. Es mag erstaunen, dass der Komponist Alcina ungemein gefühlvolle und sanfte Töne zubilligt, die von Ruggiero ihretwegen verlassene Bradamante dagegen vokal ausgesprochen dramatisch und furios zeichnet. Man merkt, dass die Zauberin letztlich doch eine liebende Frau und Bradamante eine harte Kämpferin ist. Den Männern kommt in diesem Stück lediglich eine untergeordnete Funktion zu. Die Frauen sind es, die hier nachhaltig den Ton angeben.

Emily Fultz (Morgana)

Hans Huyssen am Pult und die bestens disponierte Niederbayerische Philharmonie haben Händels Musik sehr tiefgründig und differenziert umgesetzt. Feurigen, dramatischen Tönen korrespondierten vielfältige weiche und emotionale Klangflächen, die das Seelenleben der Handlungsträger einfühlsam unterstrichen haben. Das gilt insbesondere für die sich hauptsächlich in Moll-Tonarten ergehende Titelfigur, die auf diese Weise vom Dirigenten durchaus nicht nur als böse Zauberin, sondern auch als Mensch gedeutet wurde, auch wenn er ihr zeitweilig eine ganz furiose Orchesterbegleitung zukommen ließ. Die dabei von den Musikern an den Tag gelegte Ausdrucksintensität war sehr beeindruckend, ebenso die Prägnanz ihres genau aufeinander abgestimmten, äußerst präzisen Zusammenspiels. Das war Händel vom Feinsten.

Susanne Drexl (Bradamante), Sabine Noack (Ruggiero), Gesche Geier (Alcina)

Einen ausgezeichneten Eindruck hinterließ auch die Inszenierung von Kobie van Rensburg, der sich nach seiner inzwischen beendeten Sängerkarriere ebenso erfolgreich der Regie zugewandt hat. Sein Ansatz ist weder konventioneller noch moderner Natur, sondern futuristisch geprägt. Er verlegt die Handlung aus der Zeit der Kreuzzüge in das Jahr 2267 und in die „unendlichen Weiten des Weltraumes, in dem das Raumschiff Enterprise unterwegs ist, um neue Welten zu erforschen, neues Leben und neue Zivilisationen, und dabei viele Lichtjahre von der Erde entfernt in Galaxien vordringt, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat“. Die von ihm vorgenommene Transformation der mittelalterlichen Handlung in das Ambiente von Star Trek ist genauso neu wie originell – ein gelungener Einfall, mit dem der Regisseur dann auch auf Anhieb das zahlreich erschienene Publikum auf seiner Seite hatte, das ihn dann beim Schlussapplaus auch zu Recht heftig beklatschte.

Van Rensburgs Konzept ist voll aufgegangen. Einfühlsam macht er aus der ursprünglichen Kreuzrittergesellschaft Angehörige der Sternenflotte. Die Föderation befindet sich in seiner Deutung im Krieg mit den Klingonen. Ruggiero ist der Captain der Enterprise, der zu einem Viertel Klingone ist und deshalb als Vermittler in dem Konflikt besonders prädestiniert erscheint. Doch ist er auf der Suche nach dem vermissten Admiral Astolfo und dessen Sohn Oberto ebenfalls verschollen. Lieutenant Bradamante, seine Verlobte, macht sich in der Maske ihres Zwillingsbruders Ricciardo auf die Suche nach ihm. Begleitet wird sie von Admiral a. D. Melusso, dem ehemaligen Dozenten Ruggieros auf der Sternenflottenakademie, dessen Lieblingswort „Faszinierend“ und seine Ohren ihn als Bruder von Mr. Spock ausweisen. Fündig werden die beiden schließlich auf dem von einem dichten Asteroiden-Gürtel umgebenen, unzugänglichen Planeten XY007-669669, auf dem Alcina herrscht, die über ungewöhnliche Kräfte verfügt. Mit der Visualisierung ihrer vielfältigen Zaubertricks sind van Rensburg, der auch für die Videos verantwortlich zeigte, phantastische visuelle Impressionen von enormer Wirkungskraft gelungen. Einen gewaltigen Eindruck hinterließen insbesondere die Projektionen von Alcinas Opfern in Form von düsteren, verschwommenen Skeletten.

Leigh Michelow (Oberto), Peter Tilch (Melisso), susanne Drexl (Bradamante), Sabine Noack (Ruggiero)

Lutz Kemper und Dorothee Schumacher, die auch die prächtigen Kostüme kreierten, haben ihm einen Einheitsraum auf die Bühne gestellt, der im Lauf des Stückes immer wieder Wandlungen unterworfen ist. Mal wird er von stilisierten Felsen geprägt, mal von einem naturalistischen Wald. Das Bild desjenigen, der in diesem Ambiente um Landeerlaubnis bittet, wird zuerst einmal zusammen mit dem schriftlich fixierten Grund seines Begehrens auf die Hinterwand projiziert, wie es bei Bradamante/Ricciardo der Fall ist. Bei ihr haben die Maskenbildner so hervorragende Arbeit geleistet, dass sich die in einer offenen Beziehung mit dem schwarz gekleideten Soldaten Oronte lebende Morgana auch gleich in ihn verliebt. Im Folgenden ist es für Bradamante nicht gerade einfach, den Annäherungsversuchen der attraktiven und zuerst reichlich knapp bekleideten kleinen Schwester Alcinas – die einzige Bewohnerin des Planeten, die man im Universum aufgrund ALL-Net-Flat und zahlreicher „Spacebook“-Posts kennt und die sich ständig auf Männerjagd befindet – zu entziehen. Da wartet van Rensburg dann auch mit sehr amüsanten und erheiternden Situationen auf. Sein Handwerk versteht er trefflich. Er hat das Geschehen mit Hilfe einer logischen, flüssigen Personenregie versiert umgesetzt und auch vor den gut durchinszenierten da-capo-Arien nicht kapituliert. Und insbesondere letzteres ist schon eine nicht hoch genug zu schätzende Kunst. Darüber hinaus hat er im zweiten Teil in Brecht’scher Manier auch einmal den Zuschauerraum in seine Interpretation mit einbezogen. Und wenn er Oronte mit einem Lichtschwert hantieren lässt, outet er sich zudem als Star-Wars-Fan. Etwas deplaziert wirkte lediglich der Löwe, in den Alcina Admiral Astolfo verwandelt hat. In das Star-Trek-Umfeld hätte ein imaginäres Fabelraubtier von unbekannten Planeten besser gepasst. Insgesamt haben wir es hier mit einer hoch gelungenen, sehr unterhaltsamen und stringent umgesetzten Inszenierung zu tun, die van Rensburg alle Ehre macht und die für die Rezeptionsgeschichte der Oper wichtig ist.

Leigh Michelow (Oberto), Gesche Geier (Alcina)

Bleibt noch die gesangliche Komponente der Aufführung. Und hier stand es leider nicht zum Besten. Es ist schon erstaunlich, dass das Landestheater Niederbayern beispielsweise für Verdi-Opern über ganz ausgezeichnete, in hohem Maße karriereverdächtige Gesangssolisten verfügt, für die Werke des Barock aber nicht in gleichem Maße hervorragende Kräfte aufbieten kann. Schön im Körper und mit einem ansprechenden appoggiare la voce, wie es der Italiener bevorzugt, sangen an diesem Nachmittag nur die beiden Mezzo-Sopranistinnen Sabine Noack als vollbärtiger Ruggiero und Susanne Drexl, die die Bradamante zudem sehr impulsiv spielte und für deren gelungenes männliches Äußere den Maskenbildern hohes Lob auszusprechen ist. Von diesen beiden tollen Sängerinnen wird man sicher in Zukunft noch viel hören. Sie haben das Zeug für größere Bühnen. Ihnen gegenüber fielen die übrigen Sänger ab. Gesche Geier hat als äußerlich etwas unterkühlte, blonde Alcina die Intentionen des Regisseurs mit effektivem Spiel ansprechend umgesetzt, konnte mit ihrem stark in der Maske sitzenden, spröden Sopran aber nicht überzeugen. Ziemlich kopfig und dünn sang Emily Fultz die Morgana, der sie darstellerisch aber voll und ganz entsprach. Nur über einen Hauch von Stimme verfügte Leigh Michelow als Oberto. Ein tief verankertes Fundament seines flexiblen Tenors ging auch dem flach intonierenden Oronte Albertus Engelbrechts ab. Der Melisso von Peter Tilch sang manchmal ohne jegliche stimmliche Anlehnung seines Basses ziemlich im Hals, was eine trockene Tongebung zur Folge hatte.

Fazit: Eine von der Inszenierung und der Leistung von Dirigent und Orchester her empfehlenswerte Aufführung, die ab dem 21. 10. auch in Straubing und ab dem 25. 10. zudem in Passau zu sehen sein wird.

Ludwig Steinbach, 6. 10. 2014
Die Bilder stammen von Peter Litvai