Schallplattensammlern dürfte André Previn (1929-2019) als Dirigent und Pianist für Repertoire der Spätromantik und klassischen Moderne bekannt sein, Kennern als Jazzmusiker und Filmmusik-Komponist und -Arrangeur (was ihm vier Oscars bescherte), und Klatschspaltenlesern als Ehemann der Stargeigerin Anne-Sophie Mutter von 2002 bis 2006. Man kann daraus ablesen, dass er ein musikalisches Multitalent war, ähnlich wie Leonard Bernstein (1918-1990), der ihm als Älterer der beiden die Popularität voraushatte, während Previn fleißig für alle möglichen Gattungen komponierte. Geboren wurde Previn als Andreas Priwin in Berlin. 1936 floh seine Familie zunächst nach Paris und 1941 nach Los Angeles, wo ein Verwandter, der Hollywood-Musikdirektor Charles Previn, seine vielfältige musikalische Karriere ermöglichte.
1997 komponierte er die Oper „A Streetcar Named Desire“ nach dem gleichnamigen Schauspiel von Tennessee Williams, zu Deutsch „Endstation Sehnsucht“, mit dem Libretto von Philip Littel. Im folgenden Jahr wurde sie in San Francisco uraufgeführt. Die literarische Vorlage entstand 1947 und gehört in den Kanon der wichtigsten Dramen des 20. Jahrhunderts. Kurz gesagt, ist es eine sozio-psychologische Dreiecksbeziehung zwischen Blanche DuBois, deren Status mit der reichen US-Südstaatenklasse dem Untergang geweiht ist, ihrer jüngeren Schwester Stella, die sich mit diesem Verlust arrangiert hat, und deren Ehemann Stanley Kowalski, einem aus Polen eingewandertem Arbeiter, der zu seinem Klassenstatus steht. Blanche zieht nach dem Verlust von Job und Hof so notgedrungen wie überraschend bei dem Ehepaar ein, was im Laufe des Dramas Konflikte entlang von Kultur- und Klassengegensätzen in einer Zeit gesellschaftlichen Wandels aufbrechen lässt.
Das Theater Bielefeld bringt Previns Oper nun mit hauseigenen Kräften auf die Bühne. Der Hausregisseur Wolfgang Nägele betont das Kammerspielhafte der Oper, wobei er auf die Schauspielkunst der Protagonisten bauen kann. Ihre facettenreichen Persönlichkeiten, Entwicklungen, Beziehungen untereinander und Konflikte werden klar und schnörkellos herausgearbeitet. Im Programmheft ist eine Intimitätskoordinatorin aufgelistet – was am Filmset mittlerweile üblich ist, ist auch bei dieser Produktion eine Notwendigkeit. Dušica Bijelić gestaltet die Rolle der Blanche von ihrem ersten Auftritt an als die das künftige Geschehen beherrschende Figur. Zum überzeugenden Rollenportrait gehört natürlich auch ihre ausdrucksvolle Sopranstimme, die das Parlando, die ariosen Abschnitte und dramatischen Ausbrüche souverän beherrscht. Man meint manchmal Renée Fleming zu hören, der Previn die Rolle auf den Leib bzw. in die Kehle geschrieben hat. Ihre Gestik und Mimik sind ganz große Schauspielkunst und fesseln das Publikum von Anfang an. Unter ihrer Extrovertiertheit, ihren Lügengebilden und ihrer Selbstbezogenheit leidet zunehmend das junge Paar. Cornelie Isenbürger ist ihre jüngere Schwester Stella, die zwischen den Stühlen sitzt, da sie sowohl Stanley wie auch ihre Schwester liebt und letztlich erfolglos zwischen ihnen zu vermitteln sucht. Einfühlsam setzt sie ihren schönen Sopran ein, um ihre Betroffenheit auszudrücken. Ihr Mann wird von Todd Boyce mit Ernsthaftigkeit, seiner Würde bewusst seiender eingewanderter Arbeiter, bis ihm die Sicherungen durchbrennen, angelegt. Lorin Wey als der Junggesellen-Nachbar Mitch, Marta Wryk und Tilman Rose als das Nachbar-Ehepaar Eunice und Steve sowie Tomas Kildisius als Zeitungsjunge fügen sich nahtlos in die Figurenkonstellation ein. Das Blumenmädchen (prägnant: Mayan Goldenfeld) singt nicht nur vom Tod, sondern wird wie eine mexikanische Allerheiligen-Figur als Todesbotin in dem ansonsten realistische Regiesetting symbolhaft aufgewertet.
Äußerst realistisch ist auch das Bühnenbild von Stefan Mayer. Es zeigt die heruntergekommene, beengte Zweizimmerwohnung samt Badezimmer der Kowalskis mit vielen Details (im Schlafzimmer hängt ein Poster von der Verfilmung des Schauspiels mit Marlon Brando), wobei die Beleuchtung (Carsten Lenauer) zusätzlichpassende Akzente setzt. Per Drehbühne ist auf der gesamten Rückseite der Wohnung die US-amerikanische Flagge im Glimmerlook zu sehen. Für die eine Seite der Gesellschaft ist sie der Ansporn zu sozialem Aufstieg, für eine andere Seite – sei es die Südstaatenaristokratie der DuBois in dem Stück oder aktuell die angstgeplagte Mittelschicht – der letzte Anker angesichts des (drohenden) Untergangs. Am Ende wird das Bühnenbild aufgelöst entsprechend der tragischen Auflösung des Dramas.
Die Musik von Previn bewegt sich im tonalen Bereich. Seine ganze Erfahrung im Umgang mit Stimmen und den musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten führen zu einer expressiven, farbenreichen und unmittelbar verständlichen Komposition. Der Text (gesungen wird auf Englisch, die Übertitel sind deutsch) und das Geschehen werden musikalisch prägnant umgesetzt, ohne je plakativ oder simpel zu sein. Wer Jazz erwartet, wird enttäuscht sein, denn Jazz und eher noch Blues als Referenz an den Handlungsort New Orleans werden höchst sporadisch und als situativ passende Stimmungsreflektion eingesetzt.
Anfangs litt die Premiere unter mangelnder Balance zwischen Bühne und Orchester. Die Soloinstrumente waren oft lauter als die Stimmen, die schlecht zu hören waren. Auch konnten die Bielefelder Philharmoniker in nicht ganz sinfonischer Größe unter Kapellmeisterin Anne Hinrichsen zunächst keinen Zugang zu dem des Stückes eigenen Tonfall finden. Nach der Pause waren beide Probleme beseitigt, die Stimmen kamen befreit über die Rampe und das Orchester zeigte Fluss und Farbe. In den kommenden Terminen darf man wohl eine souveräne, gut eingespielte Aufführung der Oper erwarten. Das Premierenpublikum bedankte sich mit kräftigem Schlussapplaus bei allen Ausführenden, besonders aber bei Dušica Bijelić für dieses besondere Opernerlebnis. Die Ausführenden wiederum bedankten sich gemeinsam herzlich bei Melanie Kreuter, die früher eine sehr beliebte Sopranistin am Haus war und nun im Souffleurkasten sitzt.
Bernhard Stoelzel 9. Dezember 2024
Endstation Sehnsucht – A Streetcar Named Desire
André Previn
Theater Bielefeld
Besuchte Aufführung: Premiere am 7. Dezember 2024
Inszenierung: Wolfgang Nägele
Dirigentin: Anne Hinrichsen
Bielefelder Philharmoniker