Aachen: „Dialogues des Carmélites“

Zum Zweiten

Premiere: 15.04.2018

Übers Ziel hinaus

Lieber Opernfreund-Freund,

das von Poulenc vertonte tragische Schicksal der 16 Karmelitinnen von Compiègne, die im Rahmen eines der letzten Schauprozesse der Terrorherrschaft der Jakobiner nur zehn Tage vor der Verhaftung Robbespierres im Juli 1794 wegen Hochverrats zum Tode verurteilt und sofort mit dem Fallbeil hingerichtet wurden, ist seit gestern am Theater Aachen zu erleben. Leider reichen dem Regieteam die dramaturgischen Möglichkeiten der „Dialogues des Carmèlites“ samt historischer Vorlage nicht aus, so dass der Abend vor allem musikalisch überzeugt.

Die Märtyrerinnen von Compiègne sind historisch verbürgt, hatten sich während der französischen Revolution dem Versammlungsverbot widersetzt und waren lieber singend – auch das wird in Originalquellen berichtet – in den Tod gegangen, statt ihrem Gelübde zu entsagen. Gertrud von le Fort hatte zu dieser historischen Begebenheit die Figur der Blanche erfunden, die aus einer unbestimmten Angst vor der Welt ausgerechnet in das Kloster flieht, in dem sie dann vom Regieme mit dem Tod bedroht wird. Außerdem hatte von le Fort einen klosterinternen Machtkampf thematisiert, da nach dem Tod der alten Priorin nicht die ehrgeizige Schwester Marie an deren Stelle rückt, sondern – wie auch heute noch oft üblich – die Führungsposition mit einer externen Kraft, in diesem Fall Madame Lidoine, nachbesetzt wird. Genug Stoff also, so sollte man meinen und wie in den jüngsten Produktionen in Gelsenkirchen und Nordhausen auch unter Beweis gestellt, um auch heutzutage noch spannendes, bewegendes Musiktheater auf die Bühne bringen zu können.

Doch leider traut Ute M. Engelhardt dem Stoff offensichtlich nicht genug eigene Kraft zu, sondern entspinnt eine konstruiert wirkende Vorgeschichte. Blanche war in der Oper ja schon mit ihrer Geburt Halbwaise geworden, nach Engelhardt war dann Marie als Amme vorübergehend an die Stelle der Mutter gerückt, hatte auch ein Verhältnis mit dem Vater von Blanche. Aus Scham ist sie dann just in den Orden eingetreten, in dem knapp 20 Jahre später die einstige Ziehtochter spirituelle Zuflucht sucht. Das bringt dem Werk keinen Mehrgewinn, lenkt eher von den eigentlichen Themen der Oper ab. Sicher ist Marie eine Schlüsselfigur, wird in der Oper zur treibenden Kraft, was das Märtyrergelübde der Konventsmitgliederinnen angeht – und ausgerechnet sie bleibt am Ende vom Tod verschont. Doch macht dieser Ansatz sie statt Blanche zur Hauptfigur, ihre Motivation eher zum Kern der Oper als Blanches Angst vor der Angst. Dabei bietet die wandelbare Bühne von Jeannine Cleemen und Moritz Weißkopf an sich schon genügend Spielfläche, um das Drama zu entfalten. Engelhardts Personenführung ist stringent und spannungsreich, betont die Individualität der einzelnen Frauen, statt sie als Klostergemeinschaft zu vereinheitlichen. Die Bühne mit zwei beweglichen Türmen ist über weite Strecken requisitenlos, verengt sich da und dort und schafft so zusammen mit dem Licht von Eduard Joebges immer wieder neue Atmosphäre, die in einer gelungenen Umsetzung des von Poulenc komponierten Gänsehautfinales gipfelt – da hätte es der Überdeutung von Ute M. Engelhardt gar nicht bedurft, deren weitere Idee, eine stumme Rolle einzuführen, die irgendwie Blanche als Kind und Todesengel zugleich ist, zumindest noch schlüssig war.

Zumal die musikalische Seite des Abends keinen Anlass zur Klage gibt. Der kommissarische GMD Justus Thorau erweist sich erneut als genauer Interpret, hat sich hörbar intensiv mit der variantenreichen Orchestrierung Poulencs beschäftigt und arbeitet die Stellen mit sakralen Musikanteilen ebenso gekonnt schlank heraus, wie er in den Ausbrüchen der Partitur die Zügel schießen lässt. Obwohl er sich in den klanglich wuchtigen Passagen merklich wohler fühlt, gelingt ihm doch immer wieder ein fast intimes Musizieren. Die ständig präsenten und toll aufeinander abgestimmten Damen des Opern- und des Extrachores unter der Leitung von Elena Pierini leisten ganze Arbeit (die Herren übrigens auch) und machen den Abend zusammen mit dem hervorragenden Solistenensemble zu einem musikalischen Ereignis. Allen voran ist da sicher Suzanne Jerosme in der Rolle der Blanche zu nennen, die sämtliche Facetten zwischen ängstlichem Kind und aufbegehrender junger Frau scheinbar mühelos bedienen kann mit ihrem hellen und ausdruckvollen Sopran. Kaum hörbare Piani wechseln sich ab mit Momenten voller Inbrunst und so gelingt wahrlich voll umfassende Charakterzeichnung dieser Figur. Irina Popova legt die Mére Marie kraftvoll, streitbar und energiegeladen an und überzeugt dabei vollkommen – ebenso wie Katja Starke als eindrucksvolle Interpretin der alten Priorin, die nach einem Leben im Kloster im Moment des Todes mit Gott hadert. Wow!

Katharina Hagopian bleibt mit ihrem feinen Sopran fast zu sanft und unschuldig, als dass man ihr die Rolle der neuen Priorin wirklich abnimmt, ist so aber auch stimmlich ein echter Gegenpart zur zupackenden Irina Popova. Faustine de Monès gibt die allzeit gut gelaunte Novizin Constance mit merklicher Spielfreude und Alexey Sayapin beeindruckt mit seinem klaren und schlanken Tenor als Blanches Bruder. Besonders angetan war ich bei den zahlreichen kleineren Rollen von Patricio Arroyo, dem – nach eher mäßigen Leistungen seiner Kollegen in den zuvor genannten Produktionen – eine farbenreiche und überzeugende Darstellung des Beichtvaters gelingt.

Das fast vollbesetzte Haus ist am Ende des Abends gebannt von der Geschichte, von Poulencs Musik, die hier völlig ohne Striche erklingt, und der intensiven Darstellung der Sängerinnen. Unglaublicher Jubel brandet auf – und auch ich kann von einem Besuch nicht abraten, nur weil die zusätzlichen Ideen der Regisseurin dafür sorgen, dass das Werk interpretatorisch hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt. Die musikalische Seite entschädigt allemal.

Ihr Jochen Rüth 17.4.2018

Die Fotos stammen von Ludwig Koerfer