Karlsruhe: „Boris Godunow“

(Premiere am 20.07.2014)

Aufstieg und Fall eines Usurpators – ein Boris mit Sympathiewert

Alexander Puschkin war nicht der erste, als er 1825 die historischen Geschehnisse um Boris Godunow in seiner 17 Bilder umfassenden „Komödie“ niederlegte. Schon 1710 hatte Johann Matheson den Stoff zu einer Barockoper für das Hamburger Gänsemarkt-Theater verarbeitet und auch Schillers letztes Fragment Demetrius (1805) befasste sich mit dem „falschen“ Dimitri. Mussorgsky beschäftigte sich mit einer Trilogie „musikalischer Volksdramen“ in einer Zeit, in welcher in Russland die Zuwendung zur nationalen Kultur erfolgte. Später kam noch Chowanschtschina hinzu, deren Instrumentation der Komponist nicht mehr vollenden konnte. Zu Boris Godunow verfasste er sein eigenes Libretto und dampfte die Puschkin-Vorlage auf neun Bilder ein, in denen er ohne durchgängigen dramaturgischen Fluss zwei Handlungsstränge zusammenführt und mit den Eckpfeilern der gewaltigen Choreinsätze dem „Aufstieg und Fall“ des Regenten und Zaren Boris G. dramatisch Form und Struktur verlieh. Gegenüber dem ironisierenden komödiantischen Stil Puschkins schuf Mussorgsky ein frühes Werk des historischen Realismus mit der dazu passenden emotionalen Musik. Seine „Urfassung“ der Oper (1869) wurde mangels einer Liebesgeschichte von der Leitung des Mariinsky-Theaters als nicht operngängig verworfen, und Mussorgsky musste Änderungen ins Werk setzen, die er zusammen mit seinem freundschaftlichen Berater Rimski-Korsokow erstellte. Zusammen mit diversen späteren Umgliederungen und Neuinstrumentierungen ist aus Boris Godunow ein unübersichtlicher Wust aus Fassungen geworden. Dem Trend der jüngeren Zeit folgend stellte nun das Badische Staatstheater wieder die Originalversion des Stücks vor, die logischerweise der Intentionen des Komponisten am nächsten kommen sollte, einen „Ur-Boris“, der in vier Teilen und sieben Bildern präsentiert wird.

Kammersänger Konstantin Gorny (Boris Godunow)

Die Oper spielt um 1600 in den Wirren der Zeit nach Iwan dem Schrecklichen, der den Protagonisten in der Oper noch in „bester“ Erinnerung ist, und ist voller historischer Figuren. Ein Historiendrama hat der Regisseur David Hermann nicht in Szene gesetzt. Wenn man eine Boris-Vorstellung in osteuropäischen Ländern besucht, sieht man glänzende Kreml-Dächer, prachtvoll gekleidete Chöre mit Fellmützen und glänzenden Stiefeln in wehenden Mänteln marschieren; dazu Kosaken, die das Volk bedrängen und einen Kordon um die Krönungspracht des Boris bilden; dazu prächtige Bojaren. Diese Volklore ist in deutschen Theatern heute weniger gefragt, auch ist die Ausstattung mit ihrer kurzen Halbwertzeit zu teuer. Der Historienprunk lenkt außerdem von dem ab, was moderne Regisseure bevorzugt zeigen; nämlich die Personen, um die es eigentlich geht. So lässt sich David Hermann von seinem Ausstatter Christoph Hetzer auch eine sehr reduzierte Szenographie auf die Bühne bringen: einen leeren dunklen Raum, über dem sich wie ein Schallsegel eine bewegliche bühnengroße Elementendecke befindet, die nach hinten absenkbar ist. Sie hat neben der an sich überflüssigen optischen auch eine szenische Funktion: Dahinter kann der Riesenchor auftreten und verschwinden, ohne dass für diese Menschenmenge ein langer Auf- oder Abzug vorgesehen werden muss. Als Möblierung der Szenerie gibt es einfache Tische und Stühle (wegen der wachsenden Beliebtheit bei Regisseuren immer wieder verwertbar!), die für die einzelnen Szenen nur jeweils anders angeordnet werden.

Boris Godunow ist eine politische Oper, die nicht nur von Herrschermacht handelt, sondern auch intrigantem politischem Gewürm Raum gibt und das wankelmütige Volk thematisiert. Das ist zeitlos, und so haben Hermann und Hetzer die Handelnden in moderne Kostüme gekleidet. Schtschelkalow und Schujski sind aalglatte Figuren in weißen Hemden und schwarzen Anzügen; die Bojaren ein undisziplinierter Haufen in Freizeitkleidung ebenso wie das Volk. Boris ist verletzlich dargestellt: barfuß, schwarze Hose, offenes weißes Hemd. Vor seiner Krönung zieht er sich bis auf die Unterhose aus, ehe ihm dufte Hostessen ein goldenes Ornat anzaubern. Das steht später wie ein Popanz auf einem Kleiderständer, während Boris wieder wie vor auftritt und vor seinem Tode sich wieder bis auf die Unterhose aller Kleidung entledigt: Aufstieg und Fall! Die ersten beiden Bilder sind recht statisch angelegt und kommen etwas müde herüber. Da bleibt die Bewegung des Volkes auf der Strecke; keine Bedrängung oder Aufruhr; das steht nur gleichmütig herum oder bewegt sich ganz langsam. Zum Schluss das gleiche. Eindrucksvoll ist die düstere Klosterszene, Klosterschüler kopieren alte Schriften. Die allgegenwärtigen „Gorillas“ in Lederjacken treten auch hier auf, sorgen für Ordnung und sammeln die Hefte ein. Es bleibt aber alles ein wenig im Vagen, die „Modernisierung“ geschieht ohne konkrete Anspielungen. Das wäre auch wohlfeil gewesen, denn das korrupte Beziehungsgeflecht von Herrschaftssystem, Machtspielern und Mitläufern ist ubiquitär – bis in die westlichen Demokratien. Die Regie hätte es ruhig noch abstrakter darstellen können.

Avtandil Kaspeli (Pimen); Statisterie

Für schrillen Kontrast sorgt die Wirtshausszene an der litauischen Grenze. Da diese den komödiantischen Teil des Werks beinhaltet, hat hier die Regie mit bizarren, grellen Figuren zugeschlagen, damit auch jeder merkt, dass jetzt Komödie angesagt ist. Ausstaffierung und Bewegung der Figuren passen gar nicht recht zum Rest der Oper und schon gar nicht zur Musik. Sind das strahlende und von Tschernobyl erbgutgeschädigte Personen mit merkwürdigen Auswachsungen? Im Lokal hat sogar ein müder wirkender stummer Napoleon Platz genommen, der anscheinend den Rückzug über den Njemen verpasst hat. Nach diesem überflüssigen Ausritt nimmt die Inszenierung im dritten und vierten Teil wieder größere Tiefe an. Etwas merkwürdig ist noch das Bild mit Boris‘ Kindern gestaltet: die Karte des Reichs, die Fjodor studiert, besteht aus einer langen Ansammlung von traurigen Terracotta-Figuren gestaltet à la Käthe Kollwitz. Fjodor will die zum Schluss nicht mehr sehen und kriecht unter der Tischreihe fort. Die Gottesnarr-Szene ist insofern gut vorbereitet, als diese Figur in weißem Gewand, verunstaltetem Gesucht und Dornenkrone von der Regie schon ganz zu Anfang stumm eingeführt wurde und dann Teile seiner Klage a cappella vor den Zwischenvorhängen vorträgt. Die Figur ist somit stark aufgewertet, und die Regie macht Anspielungen, dass es sich beim Gottesnarr gar um einen Wiedergänger des zu Tode gekommenen Zarewitsch Dimitri handeln könnte. Er inkarniert das schlechte Gewissen des Boris Godunow, der sich zuletzt eingestehen muss, dass ihm nichts gelungen ist. Vom verarmten Volk in der letzten großen Chorszene angeklagt kann Boris den Anschuldigungen des Mönchs Pimen nicht mehr wehren und erhebt seinen Sohn auf den Thron. Das ergibt den beeindruckenden Schluss der Inszenierung.

Lucia Lucas (Warlaam), Yang Xu (Polizist), Stefanie Schaefer (Wirtin)

Boris Godunow ist das umfangreichste Werk Mussorgskys, das er selber vollständig instrumentiert hat. Musikalisch mutet die Partitur Mussorgskys (naher Zeitgenosse Tschaikowskys, aber durch seine Trinkgewohnheiten leider viel früher verstorben) noch heute modern an. Anders als Tschaikowskys Musik in westlich romantischer Manier mit einem Schuss slawischer Sauce, ist die Mussorgskys tönende Urgewalt der musikalischen russischen Seele. Das will erst einmal musiziert sein. Johannes Willig am Pult der sehr konzentriert aufspielenden Badischen Staatskapelle machte das sehr gut. Er hebt nicht auf folkloristischen Schmelz ab, sondern schöpft aus dem Herben der Musik. Mit eher gemäßigten Tempi gewinnt er an Breite und Tiefe, ohne an Spannung einzubüßen. Die farbenreiche Instrumentierung breitet er wie einen großen Teppich aus, schafft andrerseits aber auch große emotionale Intensität. Zu den Höhepunkten zählen dabei auch die magischen, besonders langsam scheinenden Chorpassagen, die in ihrer leitmotivischen Melodik sehr prägend sind und musikdramaturgisch wie große Eckpfeiler am Beginn und am Ende des Stücks stehen. Was für ein Unterschied zu Tschaikowskys Gesäusel z.B. im Eugen Onegin zwanzig Jahre später! Dagegen hörte man an diesem Abend teilweise wenig elegantes Wogen der Instrumentengruppen, kräftige Bläser-Attacken, die schon früh in rauen Einsätzen der Basstuba gipfelten. Chor und Extrachor waren von Ulrich Wagner und Stefan Neubert einstudiert. es kam noch ein großer Kinderchor zum Einsatz: Cantus Juvenum Karlsruhe in der Einstudierung von Anette Schneider, der auch szenisch gut zur Geltung kam. Insgesamt hinterließen Chor und Orchester den stärksten Eindruck an diesem Abend.

Kammersänger Hans-Jörg Weinschenk (Gottesnarr); Cantus Juvenum, Chor

Dazu bewies aber auch das Sängerensemble hohe und homogene Qualität. Dass fast alle Rollen überzeugend aus dem Hause besetzt werden konnten, zeugt von der Leistungsfähigkeit des Staatstheaters. Die Titelrolle sang Konstantin Gorny mit hellem, elegantem und kraftvollen Bass; er verkörperte auch darstellerisch gut den stets von Zweifeln geplagten Godunow bis in den Untergang und rührte in der Szene mit seinen Kindern. Das ganz tiefe Fundament der Herrschergestalt hatte er stimmlich nicht. Hiermit glänzte indes Avtandil Kaspeli als Pimen, der auch die fordernden Höhen dieser Rolle bestens meisterte. Darstellerisch war er nicht so gefordert wie der Titelheld, aber er verlieh dem Mönch auch vom Auftreten her das dem stimmlichen entsprechende würdig-bestimmte Profil. Andrea Shin gefiel mit sauber geführtem, klarem und strahlendem Tenor in der Rolle des Grigori/falscher Dimitri. Den Gottesnarr sang der einzige Gast des Abends Hans-Jörg Weinschenk frisch mit hellem Charaktertenor, stets klagend und wohlklingend, nie dünn oder spitz. Ein weiterer Vertreter dieses Fachs wird den Schujski benötigt. Matthias Wohlbrecht konnte seine Stimme gut auf diesen Schleicher und Intriganten mit vorgezeigter hündischer Unterwürfigkeit einstellen, während die Regie ihn darstellerisch unter Wert einsetzte. Den Duma-Schreiber Schtschelkalow verkörperte Gabriel Urrutia-Benet mit sehr hellem, der Rolle entsprechendem scharfen Bariton. Stefanie Schneider gab mit schlankem gefälligem Mezzo die sehr eigenartig präsentierte Schenkwirtin und befand sich dabei in Gesellschaft der beiden skurril präsentierten Bettelmönche Warlaam (Lucia Lucas mit überlegenem, rundem Bass-Material) und Missail (Max Friedrich Schäffer mit geradlinigem Tenor). Auch aus der Familie Godunow ist stimmlich auch nur Vorteilhaftes zu berichten: Larissa Wäspys klarer heller Sopran als Xenia, Dilara Baștar mit klangschönem schlankem Mezzo als Fjodor (beide aus dem Opernstudio) und nicht zuletzt der für eine Rolle wie der der Amme bewährte ausladende Alt von Rebecca Raffell.

Kammersänger Konstantin Gorny (Boris Godunow), Matthias Wohlbrecht (Schujski)

Eine gewisse Betroffenheit hinterließ die Inszenierung beim Publikum; denn der Beifall wollte erst nicht so recht in die Gänge kommen, wurde dafür aber sehr lang. Da die letzten drei Bilder der Inszenierung die stärksten sind und der letzte Eindruck immer der entscheidende ist, konnte man in der Rückschau über einiges Fragliches der Inszenierung hinwegsehen und überdies das eindringliche musikalische Ereignis nachwirken lassen. In der nächsten Spielzeit wird mit der B-Premiere am 25. September die Produktion wieder aufgenommen.

Manfred Langer, 24.09.14
Fotos: Falk von Traubenberg