Lübeck: „Owen Wingrave“, Benjamin Britten

Besuchte Vorstellung: Premiere am 3. September 2021

„Ein kleines Wort: Nein!“ – Mit Ernst und Leidenschaft gegen den Kriegsdienst

Eine der frühesten Kindheitserinnerungen Benjamin Brittens war der Knall einer explodierenden Bombe, die ein deutscher Zeppelin in der Nacht zum 10. August 1915 über seinem Heimatort Lowestoft abgeworfen hatte. Da war der Junge noch nicht mal zwei Jahre alt, aber unter anderem dieses Erlebnis hat zu seiner späteren Kriegsdienstverweigerung geführt, zu der er sich gemeinsam mit seinem Partner Peter Pears aus tiefster pazifistischer Überzeugung entschied.

In einer Welt mit 2020/21 knapp 30 Kriegen bzw. kriegerischen Konflikten ist es schmerzliche Pflicht, auch den kulturellen Fokus entsprechend auszurichten. Das experimentierfreudige Theater Lübeck hat die neue Spielzeit mit Brittens selten aufgeführter Oper „Owen Wingrave“ aus dem Jahre 1971, einer klaren Absage an jede Heldentümelei, eröffnet. Der Komponist hatte das Werk unter dem Eindruck des Vietnam-Krieges für die BBC geschrieben, auf die Bühne kam die Oper erst zwei Jahre später.

Die musikalische Leitung der rundum überzeugenden Produktion hat der GMD und Operndirektor Stefan Vladar inne, Regie führt Stephen Lawless, der als junger Mann noch von Britten selbst als Bühnenmanager angestellt worden war. Für die Ausstattung ist Ashley Martin-Davis verantwortlich. Dies schon vorweg: Bereits nach dem ersten Akt gab es begeisterten Applaus.

Die Inszenierung versetzt das Stück aus dem spätviktorianischen Zeitalter – Libretto-Vorlage ist eine Kurzgeschichte von Henry James aus dem Jahre 1893 – in den Ersten Weltkrieg. Bereits das erste Bild (möglicherweise eine Vision des Protagonisten) entkleidet die Ausbildung an der Waffe als sadistische Quälerei, denn die vermeintlichen Pappkameraden, auf die die Rekruten mit ihren Bajonetten in einer Gefechtsübung einstechen, sind in Wahrheit gefangene deutsche Soldaten, die reglos vom Schnürboden hängen. Während sein Freund und Kamerad Lechmere (ein überzeugend skrupelloser Yoonki Baek mit scharfem Tenor) genüßlich sein Bajonett in dem leblosen Körper dreht, weicht der Titelheld vor der Gewalttat zurück, worauf das durch die Angriffe der vorigen Soldaten längst tote Opfer seine Hände flehend zu ihm erhebt. Ob aus Grauen vor der gespenstischen Geste oder aus Hilflosigkeit in der peinigenden Situation – Owen sticht schließlich doch auf die Gestalt ein, die dann endgültig in die Schlaffheit einer Leiche verfällt.

Dies ist die Schlüsselszene, denn hier erwacht in dem jungen Mann der Trotz, sich gegen den Massenmord in Uniform aufzulehnen. Sein kleines Wort „Nein!“ macht ihn innerlich groß und gibt ihm die Kraft, gegen den Strom zu schwimmen. Das Libretto wird ihn später ein Bekenntnis zum Frieden sprechen lassen, das an die paulinische Inbrunst des Ersten Korintherbriefes mit seinem Hohelied der Liebe erinnert.

Der Bariton Johan Hyunbong Choi singt und spielt sowohl den Kampf mit seinem Gewissen als auch die neugewonnene langgereifte Überzeugung absolut glaubhaft; niemand kann ihn dazu bringen, wieder zur Waffe zu greifen. Weder vermag dies sein Ausbilder Spencer Coyle, dessen militärische Zackigkeit der Bariton Gerard Quinn ebenso glaubhaft vermittelt wie sein Verständnis für die Kursänderung seines Untergebenen, noch kann es die Familie mit ihrer jahrhundertealten militärischen Tradition. Die bildet einen eigenen Kriegsschauplatz, denn sowohl der Großvater, der General Sir Philip Wingrave (man wünscht sich, daß sich der Tenor Wolfgang Schwaninger als Militärparodie wie Loriots Opa Hoppenstedt entpuppt, aber der verhärtete Greis ist vom Kriegführen besessen) als auch die Damen des Hauses sind in ihrer nationalistischen und familientraditionalistischen Haltung die erbitterten Gegner des Neu-Pazifisten Owen. Ob seine keifende Tante (Sopranistin Sabina Martin mit entsprechender Schärfe), seine Schwiegermutter in spe, Mrs. Julian (Sopranistin Andrea Stadel macht die Zwanghaftigkeit und Unsicherheit der Figur ahnbar), oder vor allem seine Verlobte Kate – alle wenden sich gegen ihn. Die Mezzosopranistin Wioletta Hebrowska gibt eine beängstigend von sich und ihrer Mission überzeugte junge Frau, der man abnimmt, über Leichen zu gehen.

Diese Frauen lassen an die Mütter und Ehefrauen denken, die im Folgekrieg angeblich freudig ihre Söhne und Männer dem „Führer“ opferten, um dem Irrsinn eines verlorenen Krieges einen Sinn zu geben. Es sind die Frauen, vor allem eben die Mütter, die neben den Patriarchen die nationalistischen und fundamentalistischen Systeme stützen, indem sie das Wort „Nein!“ nicht aussprechen. Und so weinen hernach die Witwen an den Gräbern, denn der Krieg kennt nur Verlierer. Der Name „Wingrave“ bedeutet nichts anderes; es ist eine Familie, die Gräber gewinnt und Kanonenfutter produziert.

Auch die Gattin des Offiziers Coyle, deren differenziertere, aus Sensibilität erwachsene Haltung Evmorfia Metaxaki sympathisch verkörpert, kann sich nicht gegen den nationalen Strom stellen, in dessen familiärer Mitte, wie es im Libretto so treffend heißt, „Soldaten gezüchtet“ werden. Owen wird als Schande für die Familie beschimpft, man wirft ihm Egoismus und Feigheit vor.

Und hier verläßt der Rezensent die distanzierte Haltung. Ich fühlte mich von der ersten Szene an in die frühen 80er Jahre versetzt, eine der heißeren Phasen des Kalten Krieges. Aufgewachsen in einer der größten deutschen Garnisonsstädte, entschied ich mich dafür, im Kriegsfalle weder auf meine eigenen Verwandten jenseits des Eisernen Vorhanges noch auf irgend jemanden anderen zu schießen. „Drückeberger“ nannten einige Klassenkameraden uns zwei Verweigerer aus dem Jahrgang und die, die am lautesten gekeift hatten, wiesen bei der Musterung seltsamerweise plötzlich Atteste von befreundeten Ärzten vor, die sie als dienstuntauglich bewerteten. In der Gewissensprüfung ließen uns Uniformträger ihre ganze Verachtung spüren und konfrontierten uns mit absurden Phantasie-Situationen, die nicht nur weitab von der Wirklichkeit militärischer Ausbildung standen, sondern in deren Lösungsversuchen man beinahe immer scheitern mußte. Wir haben nach erfolgreicher Prüfung, die uns manchmal monatelang aus Studium und Ausbildung riß, dann mit Überzeugung zivil gedient. Und im Kriegsfalle werden wir nicht irgendwo gemütlich daheim sitzen, sondern selbstverständlich eingezogen. Die Waffe werden wir nicht anfassen, aber wir werden unsere Kameraden versorgen, ihre Wunden verbinden und sie begraben müssen.

Auch Owen wird nicht vom frühen Tod verschont. Kate, die schamlos mit Kamerad Lechmere geflirtet hat, schlägt ihm eine unsinnige Mutprobe vor: Ihr Verlobter soll, wenn er denn kein Feigling sein will, die Nacht in einem sogenannten Spukzimmer im Familienanwesen verbringen. Dort hat ein Vorfahr einst seinen Sohn erschlagen, weil dieser sich weigerte, sich für die Familienehre zu prügeln. Der böse Ausgang wird im Gesang des Theaterkinderchors Vocalino unter der Leitung von Gudrun Schröder vorausgeahnt. Owen geht in das verfluchte Zimmer und stirbt dort. Die Gespenster der Vergangenheit haben ihn umgebracht.

Die Düsternis des Geschehens ist in ein zurückgenommenes, aber sprechendes Bühnenbild gebettet: ein Schützengraben mit Eisenklappen und Brettern ist ebensogut Familiengruft mit Grabplatten und Sargdeckeln. Die dunkle Wandvertäfelung erzeugt keine heimelige Geborgenheit, sondern ähnelt einem Columbarium, in dessen zahllosen Fächern all die Gefallenen aus der Familie wohnen, deren Portraits sich immer wieder wie geisterhafte Visionen herabsenken.

Brittens Musik ist ebenso hart wie mitreißend. Partitur und Libretto bilden eine großartige, bedrückende Einheit und es gibt trotz aller Sprödigkeit wunderbare Momente, etwa wenn eine atmosphärische Zartheit mit der Celesta erzeugt wird oder das Pizzicato der Streicher an das Ticken einer alten Standuhr erinnert, die die verstreichende Zeit als ein klingendes Vanitassymbol hörbar macht. All diese verschiedenen Klangfarben und Rhythmusbrüche entläßt das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck unter Vladars ebenso entschiedenem wie feinfühligem Dirigat makellos und eindringlich aus dem Graben.

Die Oper klingt leise klagend aus, die Trompetenfanfaren lassen an das „War Requiem“ denken; eine Reminiszenz ebenso an das eigene Werk wie an die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges und ein Appell zu echter Versöhnung und dauerhaftem Frieden.

Langanhaltender, verdienter, stehender Applaus und viele „Bravo“-Rufe für eine ganz große Oper.

Dr. Andreas Ströbl, 5. September 2021

Photos: Jochen Quast