Besuchte Premiere am 17.03.17
Lübeck ist immer eine Messe wert
Immer beliebter zwischen den Opernpremieren finden sich Aufführungen von Oratorien oder Zwischenwerken wie Berlioz "Romeo et Juliette" und ähnlichem. Ein ganz besonderes Werk dieser Art ist Leonard Bernsteins "Mass", das jetzt am Theater Lübeck zur Premiere kam. Die Uraufführung fand 1971 zur Eröffnung des John F. Kennedy Centers in Washington statt, im deutschsprachigen Raum gab es wohl das letzte Mal in den Siebziger oder Achtziger Jahren an der Wiener Staatsoper einen szenischen Versuch. Wir haben es also mit einer echten Rarität zu tun, die von Bernsteinfans als besonders persönliches Werk des Komponisten eingeschätzt wird. Der Aufwand ist gewaltig, denn zu dem groß besetzten Orchester kommen noch elektronische Gitarren und Bässe dazu, großer Choraufwand mit Kinderchören, bei den Solosängern werden zu den klassischen auch Rock-und Bluessänger gefordert.
Eine wirkliche "Handlung" existiert auch nicht, denn Bernstein hat zusammen mit Stephen Schwartz ein Libretto noch der römisch-katholischen Messliturgie erstellt, die immer wieder von Einwürfen unterbrochen wird, bis der Priester durch die geäußerten Zweifel zu einem Zusammenbruch kommt, trotzdem endet das Werk innerhalb seiner Kritik zu einem positiven Gotteslob, lediglich die starren Riten einer Konfession brechen auseinander, es könnte auch eine andere Glaubenskonfession sein. Ein Werk, das gerade in unserer heutigen Zeit, recht berührende Denkansätze bietet, ohne den Zeigefinger allzu penetrant zu heben. Bernsteins Musik bietet, außer den kirchlichen Anklängen, eigentlich nichts Neues, was sich nicht auch in seinen Musical-Meisterwerken findet, nämlich eine Polystilistik, für manchen vielleicht verstörender zu hören, weil vieles in diesen Zusammenhängen noch schroffer im Übergang wirkt , als in einer geschlossenen Handlung wie in "West Side Story zum Beispiel. Das Geniale an Bernsteins Musik ist, daß selbst die anschmiegsamen Stellen, denen man einen Kitschfaktor vorwerfen könnte, aufgrund ihrer starken Emotionalität nie banal wirken.
Stefan Rieckhoff stellt in seiner Ausstattung einen klerikalen Raum auf die Bühne des Lübecker Hauses, der mit den Kirchenfenstern und den "Skelettkostümen" Bezug auf den Lübecker Totentanz nimmt, ein bißchen der Stadt geschuldet, ohne wirklich einen wichtigen Bezug darzustellen, doch der Bühnenraum macht in seinen Veränderungen und Falk Hampels Licht einen großen Eindruck. Tom Ryser hatte in der letzten Spielzeit schon mit Purcells "Fairy Queen" einen großen Erfolg mit einem genreübergreifenden Stück in der Hansestadt landen können, bei "Mass" gelingt ihm zwar der große Bogen, aber über einzelne Ideen ließe sich durchaus streiten, es ist halt ein wirklich schwieriger Fall mit diesem Werk. Der Priester versucht also in diesem Raum eine Messe zu feiern, immer wieder tauchen dabei vier Tänzer auf, die sich schwer beschreiben lassen, vielleicht am ehesten als Gottesidee beschreiben lassen; Lillian Stillwell hat eine Choreographie entwickelt, die sich dem klassischen Ballett mit modernen zuschreiben lassen und guten Effekt machen. Gerard Quinn, der Lübecker Hausbariton, beginnt die Liturgie zunächst mit salbungsvollem, runden Ton als Menschenfreund, je mehr er durch die Unterbrechungen verunsichert wird, um so facettenreicher wird sein Gesang, bei jedem "Lasset uns Beten", mit dem er zur Abfolge des Ritus zurückkehrt verpuppt er sich mehr in einen Kokon von klerikaler Messgewänderpracht, aus dem er sich bei seinem Zusammenbruch schier heraussprengt. Mit starker emotionaler Beteiligung berührt er die Zuschauer ungemein, ein echter Ausnahmekünstler.
Ihm gegenüber stehen das Street-Chorus genannte Ensemble von Rock-und Blues-Sängern, die teilweise auch dem klassischen Schöngesangs-Ton verpflichtet sind, zunächst noch etwas einem etwas pauschalen Musical-Ton hingegeben, brechen vor allen die extraordnären Gänsehautstimmen vor allem der "farbigen" Sängerinnen, das "Gelernte" auf, um zu einem wahrhaftigen Gesang zu finden. Nach dem etwas flachen Beginn, gelingt es sämtlichen Solisten einen jeweils sehr persönlichen Ton zu finden. Auch hier die starke physische Beteiligung durch die vielfältigen Tanzszenen, diesmal von mehr musicalhaftem Gestus. Es ist vielleicht gemein, jetzt keine einzelne Namensnennung zu machen, doch jeder Zuschauer hat da seine eigenen Favoriten, gut waren sie alle auf ihre jeweils sehr persönliche Art, was auch den begeisternden Eindruck, der sich beim Applaus, aufzeigt.. Grandios auch die vielen Chöre unter ihren jeweiligen Leitern, nicht immer ganz auf Punkt, aber voller vokaler Emphase: Der Chor und Extrachor des Theaters Lübeck, die Kinder-und Jugendchöre "Vocalino" des Theaters Lübeck und der Musik-und Kunstschule Lübeck, der Phemios Kammerchor Lübeck und die Mitglieder des Nordelbischen Knabenchors, die Bühne war vokal wie räumlich richtig gut gefüllt. Als besondere Erwähnung der Solo-Knabensopran von Ian Jans, der nicht nur schön sang, sondern auch deutlich als Kinderstimme erkennbar war.
Andreas Wolf wurde der Polystilistik Bernsteins mehr als gerecht, sicherlich keine einfache Aufgabe, dazu war stets eine gute Klangbalance gewahrt, zwischen Sängern, , dem fabelhaften Philharmonischen Orchester der Hansestadt Lübeck und den elektronischen Instrumenten. Insgesamt ein sehr mutiger, teilweise verblüffender Abend, der auch sehr zur Nachdenklichkeit anregt. Für jeden Musikfreund wieder einmal ein guter Grund an die Trave zu fahren. Das Premierenpublikum im ausverkauften Lübecker Haus konnte sich vor lauter Jubel gar nicht einkriegen und das sehr , sehr lange nicht.
Martin Freitag 20.3.2017
Fotos von Olaf Malzahn