Premiere: 19.1.2019
Wer als Operettenfreund den Blick in Richtung Metropolregion Nürnberg lenkt, könnte den Eindruck haben, dass gerade eine Paul-Abraham-Renaissance im Gang ist. In Hof kam Mitte Dezember „Viktoria und ihr Husar“ auf die Bühne, gestern abend erlebten wir den „Ball im Savoy“ im Nürnberger Staatstheater. Mit Blick auf die Operetten-Ausgrabungen der letzten Jahre, die sich vor allem den Werken der 20er und frühen 30er Jahre gewidmet haben (erst Anfang der Woche konnte man Oscar Straus‘ „Eine Frau, die weiß, was sie will“ in der kongenialen Interpretation der Komischen Oper Berlin erleben), handelt es sich dabei jedoch um etwas Größeres. Im Programmheft der Nürnberger Aufführung – übrigens der lokalen Erstaufführung – wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Operetten der 20er Jahre erst in den letzten Jahren wieder so auf die Bühne kamen, wie es sich die Macher einst vorstellten: im Soundgewand des adaptierten Jazz, im Revueton der 20er, also nicht in jenem Stil, der von den Nazis als „deutsch“ definiert wurde und bis weit in die Nachkriegszeit für den Ruf der Gattung sorgte: das Ganze sei doch nur für Oma und Opa interessant. Auch „Das weiße Rössl“ klang einmal schnoddriger, fetziger und moderner, als es uns die (auf ihre Weise hinreißende) Einspielung mit Peter Alexander, Erika Köth und anderen Interpreten der 50er und 60er Jahre suggerierte.
In Nürnberg also tanzt man nun mit einem Orchester durchs Savoy-Hotel, das flotter nicht sein könnte. Vermutlich stehen hier nicht die von Abraham vorgeschriebenen drei Klaviere auf der Hinterbühne, dafür hat Kai Tietje die „bühnenpraktische Rekonstruktion“ der Partitur, die Matthias Grimminger und Henning Hagedorn vornahmen, musikalisch eingerichtet und arrangiert, weil sie (so der Regisseur Stefan Huber) „den Stimmen unserer diversen Besetzung entspricht und andrerseits die vielen rhythmischen und tänzerischen Elemente der Vorlage heraushebt und sie mit einem Schuss Ironie garniert“. Volker Hiemeyer leitet das klangverstärkte Orchester; man sieht’s erst, wenn Daisy Parker alias Christoph Marti in elegantem weißem Frack und mit Zylinder nicht nur das Savoy-Publikum rockt. Marti ist überhaupt eine der Trumpfkarten der Aufführung. Neben den beiden anderen Mitgliedern der „Geschwister Pfister“, die die beiden „Hohen“ Hauptrollen gestalten, und neben der anderen „komischen“ Gestalt, dem Mustapha Bei der grandiosen Andreja Schneider, macht Marti eine herrliche Bella Figura.
Im Geschlechter- und Rollentausch nimmt die Inszenierung eine Bühnentradition auf, die in den gewandelten Rollenmodellen der 20er Jahre zu einem Höhepunkt geriet; dieser Transvestitismus schlägt sich in Nürnberg auch aufs männliche, von Danny Costello inszenierten Ballettensemble durch, das einmal als Damencompagnie im leicht burlesken Stil über die Bühne fegt. Marti aber ist ein wunderbarer Entertainer, dessen Szenen mit „der“ Mustapha, die ihn/sie als 7. Frau/Mann fürs Leben engagiert, durchaus mehr als komisch sind. Die 6. war übrigens eine Dame aus Nämberch…
Zwar: das Stück über eine Ehefrau, die sich an ihrem Ehemann rächt, weil der sie – angeblich – betrog, braucht ein bisschen, ehe es an Fahrt gewinnt, auch wenn das Bühnenbild und die Auftritte aus und die Abgänge im leergeräumten Orchestergraben sehr elegant und ästhetisch sind. Timo Dentler und Okarina Peter kamen mit ein paar drehbaren Ecksäulen und einigen Pflanzen im Graben aus, um Atmosphäre und wechselnde Schauplätze zu generieren. Art deco, ein paar Lichtelemente: voilà, c’est tout. Denkt der strenge Kritiker zunächst noch, dass es angesichts der nicht besonders inspirierten Musiknummern vielleicht doch sinnvoller gewesen wäre, zum wiederholten Mal die „Fledermaus“ anzuhören, die im Hintergrund der Dramaturgie des Stückes steht, so wird er schließlich eines Besseren belehrt. Abraham gelang es mit seinen Schlagern, die mal berlinerisch („Es ist so schön, am Abend bummeln zu geh’n"), mal „exotisch“ („Tangolita", wobei die Musik an Alfred Schnittkes genialen Tango aus seiner Faust-Kantate erinnert), mal wunderbar sentimental („Toujours l´Amour") oder schlichtweg sinnfrei, doch sehr im wunderbar zeitgeistigen Stil der 20er („Wenn wir Türken küssen") über die Rampe kommen, ein Stück zu schreiben, das denn doch weniger substanzlos ist, als es zunächst den Anschein hat. Der Konflikt, die „Treue“ betreffend (ja, es ist einer, und er ist zeitlos), offenbart sich im langsamen Rhythmus eines eleganten Walzers. Als sich Madeleine, die für den Fehltritt, der in einer Lüge und einer schwachen moralischen Haltung besteht, die Revanche nimmt und sich die Eheleute in einer quasi falschen Verführungsszene anschauen – sie maskiert und im herrlichen wie erotischen Goldkleid, er buchstäblich demaskiert – scheinen sie sich zu erkennen. „Toujours, l’amour“… Zugegeben: Hätte Peter Konwitschny oder Luc Bondy das Stück inszeniert, würde der Abend nicht so konventionell und happy-end-gedrängt ausgehen wie an diesem Abend. Man hätte das Finale, das im Sinn der Konvention der Gattung sein muss, durchaus nachdenklicher inszenieren können, doch wär’s am Ende nicht auf einen Klatschmarsch hinausgelaufen.
So bleiben ein paar grandiose Darsteller, insbesondere, um’s nochmal zu sagen, Andreja Schneider und Christoph Marti, neben denen die Madeleine der Frederike Haas und der Marquis Faublas des Tobias Bonn im Rahmen des ersnt genommenen Genres erstklassig agieren, sodass sich die unsentimentale Rührung und die professionelle Komik (die frustrierte Hausfrau und der lustige Türke, der sie in ihrer Ehekrise aufzumuntern weiß) die Waage halten. Bravo! Stand am Anfang noch das vielleicht ironisch gemeinte Kitschbild des filmisch vermittelten „Bella Venezia“, in dem das glückliche Paar sich wie in einem Musikfilm der 30er Jahre in der Gondel vor der Rialtobrücke ansingt und -himmelt, herrscht am Ende Partystimmung. Die Bühne öffnet sich, Miss Parker, die/der als Komponist „Jose Pasodoble“ Triumphe feiert, macht eine Supershow, schon vorher hat sie/er ja bei „O Mister Brown“. also der ersten einprägsamen Nummer der Partitur, die Choreographie hinreißend angeführt. Auch bemerkenswert innerhalb des Ensembles, das als „homogen“ zu bezeichnen untertrieben wäre: Andromahi Raptis als La Tangolita, die Verflossene des Lebe/Ehemanns. Und wunderbar – sowohl als Madame Albert, die Chefin des Modesalons, die der auf Rache sinnenden Ehefrau das Goldkleid anmisst, und als Celestin Formant, der herzhaft verdruckste und grundehrliche Glückssucher, der einmal im Jahr einen Ball besucht, den Ball im Savoy, um dort die Liebe seines Lebens zu finden, um an diesem Abend auf eine Frau zu stoßen, die auf Teufel komm raus ihren Mann betrügen will: Cem Lukas Yeginer. Und ganz nebenbei ist der Abend auch ein höchst unterhaltsames und undogmatisches Plädoyer für die Homosexualität.
Hat jemand was gegen „die Operette“? Dann möge er nach Nürnberg fahren, um sich eine durchaus tiefsinnige Screwball-Comedy anzuschauen, die, nach einer musikalischen Durststrecke von 40 Minuten, vor allem im zweiten Teil des Abends zu sich selbst kommt: dank einer denn doch substanziellen Schlager- und Walzermusik und, einschliesslich des fleissigen und exzellenten Chors des Staatstheaters Nürnberg unter Tarmo Vaask, eines Dreamteams von singenden Akteuren.
Frank Piontek, 20.1.2019
Fotos: © Bettina Stöß