Premiere 20.1. / besuchte Vorstellung 30.1.18
Müde Rarität
Lieber Opernfreund-Freund,
ein Brüderpaar, letzte Vertreter eines Herrschergeschlechts, hat sich gegenseitig im Kampf getötet. Der neue König stilisiert den einen zum Helden und brandmarkt den anderen als Verräter und verbietet dessen Bestattung. Die Schwester der beiden achtet den Willen Gottes stärker und widersetzt sich dem Verbot. Sie will den Bruder begraben und wird dafür zum Tode verurteilt. Ihr Geliebter, der Sohn des Königs, lässt sich mit ihr lebendig begraben. Der König lässt das Grab aufbrechen. Sein Sohn nimmt sich das Leben und seine Verlobte folgt ihm in den Tod. „Antigone“ heißt das Drama, das Sophokles vor beinahe zweieinhalbtausend Jahren aufgeschrieben hat und die Geschichte bietet auch heute noch genug Zündstoff für eine spannende Aufführung, stehen doch Ehre, Obrigkeitshörigkeit, Machtgier und Liebe im Zentrum der Handlung. Und doch ist das Drama derzeit in einer eher müden Umsetzung am Theater Osnabrück zu erleben.
Die Tragödie mit der Tragödie fängt schon bei der Komposition an. Tomasso Traetta hat den Plot in eine Oper gegossen, die 1772 in Sankt Petersburg uraufgeführt worden war. Dorthin hatte Katharina II. den Komponisten geholt, der zuvor in Venedig tätig gewesen war. „Antigona“ steht an der Schwelle vom Barock zur Klassik und gilt als sein reifstes Bühnenwerk. Und doch erfasst die Komposition das dramatische Potenzial des Stoffes nicht, wirkt ob ihres Zwittercharakters unausgegoren. Endlos erscheinende Rezitative werden von ariosen Passagen unterbrochen, die an die bravourösen barocken Koloraturarien nicht ansatzweise heranreichen und doch unzähligen Wiederholungen durchlaufen – vielleicht hätten hier Kürzungen und Striche nicht geschadet. Musikalisch eher belanglose Ideen werden so über Gebühr ausgebreitet und die Chorszenen, in denen der Komponist immer wieder spannende und interessante rhythmische und harmonische Wendungen findet, erscheinen da fast wie rettende Inseln. Für ein Musiktheaterwerk nicht gerade ein Lob, sind die Passagen ohne Gesang, die Vorspiele zu den Akten und die instrumentalen Einleitungen zu den Szenen und Arien die echten Höhepunkte des Abends. Das mag auch am hervorragenden Dirigat von GMD Andreas Hotz liegen, der beim Osnabrücker Symphonieorchester gewohnt gekonnt die Fäden zusammenhält und versucht, die Partitur im Rahmen ihrer Möglichkeiten bestmöglich zu beleuchten.
Die szenische Interpretation des Niederländers Floris Visser trägt nicht dazu bei, Traettas dröge Umsetzung zu beleben. Vielleicht sind der sandfarbene Einheitsbühnenraum und die mausgrauen Wirkwaren, in die Dieuweke van Reij die Protagonisten gehüllt hat, auch nicht der passende Rahmen, die antike Tragödie auf frische Art und Weise zu erzählen. Da kann auch das stimmungsvolle farbige Licht von Alex Brok nicht viel ausrichten. Beginnt die Oper noch mit einem lebendigen Messerkampf der Brüder, nimmt Visser der Handlung bald den Drive, setzt auf viel Herumgestehe und nur spärliche, wenn auch recht dramatische Interaktionen der Protagonisten. Irgendwie bleibt jeder allein und nur die beiden Liebenden, Antigona und Emone, lassen eine echte Beziehung zueinander erkennen. Unkommentiert erzählt der Intendant von Opera Trionfo, mit der zusammen diese Produktion entstanden ist und die sie ab Februar in den Niederlanden zeigt, die Geschichte, lässt jegliche Deutung außen vor und den Zuschauer damit auch ein Stück weit allein – und das ist heutzutage für ein antikes Drama wie „Antigone“ dann doch ein bisschen wenig.
Dabei wird fast ausnahmslos hervorragend gesungen. Lediglich Christian Damsgaard, der als Gast den Creonte singt, fehlt es an stimmlichem Volumen, um den König glaubhaft als selbstbewussten Herrscher mit tyrannischen Anlagen dazustellen. Sein an sich klangschöner Tenor kann vor allem in den hohen Lagen nicht gegen die beherzt singenden Schwestern Antigona und Ismene bestehen, darstellerisch jedoch liefert der Däne eine tolle Leistung ab. Erika Simons läuft in der Rolle der Titelfigur nicht nur auf diesem Gebiet zu Höchstform auf, sondern begeistert, von ein paar Schärfen in den Höhen abgesehen, als Antigona mit wandlungsfähigem und farbenreichem Sopran. Unterstützt wird sie von Lina Liu, die als ihre Schwester Ismene leider nur wenig von ihrer so kraft- wie gefühlvollen Stimme zeigen darf, während Katarina Morfa in der Hosenrolle des Emone eine intensive Darstellung des Königssohnes gelingt, als der sie die Stärken ihres bewegenden Mezzos voll ausspielt. Daniel Wagner komplettiert das Ensemble mit feinem Tenorgesang als Creontes Berater Adrasto. Angelehnt an die Chorgesänge im antiken Schauspiel hat Tommaso Traetta eine umfangreiche Chorpartie komponiert, der sich die Damen und Herren des Opernchores unter der Leitung von Markus Lafleur unumwunden und auf ganzer Linie überzeugend stellen. Da ist kein Wackler zu hören, wie aus einem Mund klingen beispielsweise die Totenklagen, harmonisch vollkommen und vollkommen harmonisch. Ein Genuss!
Teile des Publikums sind schon zur Pause ermüdet, auch wenn Christian Damsgaard rechtzeitig zuvor die Urne mit Polinices Asche mit beherztem Wurf an der Wand zertrümmert und so dafür sorgt, dass alle wach sind. Manch einer rennt schon zur Garderobe, weil er denkt, das Stück sei vorbei. Wiedergekommen sind dann doch alle, aber der Applaus nach den letztendlich mehr als drei Stunden ist doch recht verhalten. So honorierenswert das Bemühen des Theaters Osnabrück um ein selten gespieltes Werk ist, so ernüchternd ist die Erkenntnis, dass doch nicht jede Oper zu Unrecht vergessen ist.
Ihr Jochen Rüth 31.01.2018
Die Fotos stammen von Jörg Landsberg.