Premiere am 27.10.2016
Vor einem Jahr wurde die erste Spielzeit des neuen Intendanten Stéphane Lissner eingeläutet mit einem wortgewaltigen „Moses und Aron“. Darauf folgte eine „Damnation de Faust“ mit Starbesetzung, womit der Musikdirektor Philippe Jordan einen großen Berlioz-Zyklus starten wollte. Doch die Reaktionen waren anders als erwartet (siehe Merker XI 2016 und I 2017) und einige Führungsmitglieder des Hauses warfen das Handtuch. Zum ersten Mal seit mehr als zwanzig Jahren veröffentlichte die Pariser Oper keine Auslastungsstatistiken, denn die Anzahl der leeren Stühle stieg/steigt bedenklich. Im Vorwort der Broschüre zu seiner zweiten Spielzeit beklagt sich der Intendant, dass die Beziehung des Publikums zu seinem Theater so irrational und auch oft so enttäuschend sei. So gibt es in dieser Spielzeit keine weitere Oper von Berlioz (nur „Béatrice et Bénédict“ wird im März an einem einzigen Abend konzertant gegeben), aber dafür nun „Samson et Dalila“, seit 25 Jahren (!) nicht mehr auf dem Spielplan der Pariser Oper.
Camille Saint-Saëns war einer der bekanntesten und erfolgreichsten Komponisten der Belle Epoque – weit vor Gounod, Massenet und Bizet – aber die Opéra de Paris hatte schon von der ersten Minute an Schwierigkeiten mit „Samson et Dalila“. Das lag an dem biblischen Sujet, an der sinnlichen Dalila und auch an den Wagner-Klängen im ersten und zweiten Akt. Ursprünglich 1859 als ein Oratorium geplant, blieb die Komposition im ersten Akt stecken, denn alle waren „schockiert“ über die sinnliche Musik. Erst 15 Jahre später schaffte es Pauline Viardot, der die Rolle der Dalila gewidmet war, den zweiten Akt in Paris auf zu führen. Doch der deutsch-französische Krieg von 1870 war schon im Kommen, womit das Wagner- und somit „deutschfreundliche“ Werk in der Pariser Oper unspielbar wurde. Zum Glück gab es Menschen und Künstler, die vollkommen über solchen Vorurteilen standen und es war „nur, nur, nur Franz Liszt zu verdanken“ (so wie es Saint-Saëns mehrmals schrieb), dass „Samson et Dalila“ zuende komponiert und 1877 in Weimar uraufgeführt wurde – auf Deutsch! Der Erfolg stellte sich bald in ganz Europa ein, auch in einigen französischen Provinzopern, und 1892 war die Opéra de Paris mehr oder weniger gezwungen, „Samson et Dalila“ in ihr Repertoire auf zu nehmen. Während andere Opern von Saint-Saëns, so wie die großen historischen Schinken „Henri VIII“ und „Ascanio“, aufwendige Ausstattungen bekamen, wurde „Samson et Dalila“ halbherzig aufgeführt in einem alten Bühnenbild von Massenets „Roi de Lahore“. Doch auch wenn die gemalten Tempelsäulen im letzten Bild nicht spektakulär einstürzten, wurde „Samson“ ein riesiger Erfolg, der während der Belle Epoque über achthundert Mal an der Pariser Oper wiederholt wurde.
Für ein heutiges Publikum ist „Samson et Dalila“ jedoch kein einfaches Werk – weshalb meistens nur die großen Arien und das berühmte Liebesduo in Konzerten gegeben werden. Nach der letzten Aufführung 1991 an der Opéra de Paris, schrieben wir, dass die riesige, monumentale Ausstattung von Pier Luigi Pizzi so überflüssig wirkte, dass man die Oper besser konzertant hätte geben können. So erklärt sich die Entscheidung, nun einen einfallsreichen Theaterregisseur heranzuholen, der die biblische Geschichte nicht nur auf die Bühne setzt, sondern auch wirklich inszeniert. Damiano Michieletto, in den letzten Jahren schon drei Mal in Salzburg und regelmäßig im Theater an der Wien zu Gast, gelang eine interessante und intelligente Regie. Über die Ausstattung von Paolo Fantin und Carla Testi lässt sich streiten: Genau wie bei der „Armide“ in der Staatsoper gibt es erst einmal einen großen Stahlkasten und viel Soldaten mit Maschinengewehren.
Das ist vielleicht unvermeidlich, wenn die Handlung in Kriegszeiten in Gaza spielt. Wieder gibt es einen Geschlechtertausch: bei „Armide“ ziehen die Soldaten Frauenkleider an (um die gegnerischen Soldaten zu verführen), hier erscheint der Frauenchor in „Voici le printemps“ – das französischen Pendant zu den Blumenmädchen in „Parsifal“ – in Anzug und Krawatte. Aus den Blumen pflückenden Mädchen werden Herren auf Geschäftsreise, die eine Prostituierte in ihr Hotelzimmer bitten. Das ist ein sehr gewagter Einfall, denn etliche Regisseure haben sich in unseren Augen diskreditiert, indem sie Dalila als Hure darstellten (was sie in gewissen Bibelauslegungen wohl war). Denn bei Saint-Saëns lehnt Dalila jede Bezahlung ab, weil sie Samson „nur aus Rache“ umbringen will. Rache wofür? Das ist die Kernfrage, die sich jeder gute Regisseur stellen muss, und Damiano Michieletto fand darauf einige interessante Antworten. Seine Dalila ist keine dicke Hure aus Babylon, die auf dem Sofa liegend wunderschöne Arien in den Saal orgelt – Liszt meinte, Saint-Saëns sei vor allem „der weltbeste Organist“ – sondern ein durch Krieg, Religion, Leidenschaft und Wollust gespaltener Charakter.
Dieses differenzierte Rollenporträt wäre niemals aufgegangen ohne die Mitwirkung des Dirigenten, des Orchesters und einer wirklich exzeptionellen Sängerin. Im Gegensatz zu ihren Kolleginnen, die wir als Dalila in Erinnerung haben, ist Anita Rachvelishvili erstaunlich jung. Sie sang 2009, gerade erst 25 Jahre alt, die „Eröffungs-Carmen“ von Lissners erster Spielzeit an der Scala. Ihre Jugend und ihre Technik ermöglichen es ihr, Dalilas erste Arie, „Printemps qui commence“, als junges Mädchen mit einem hellen Sopran zu singen, um danach im großen Liebesduo „Mon coeur s’ouvre à ta voix“ Samson mit einer samtenen Mezzo-Bruststimme zu betören. Am Ende des Abends wird sie zur Furie – eine Frau die nichts mehr vom Leben erwartet und so auch nichts mehr zu verlieren hat. Das ist nicht nur alles wunderbar gesungen, sondern auch so gut gespielt, dass man den ganzen Abend im Banne Dalilas bleibt. Da kann Aleksandrs Antonenko als Samson leider nur beschränkt mithalten. Er ist auch jung – nur zehn Jahre älter als Rachvelishvili -, sieht aus der Ferne aus wie José Cura und ist ein wirklicher „lirico spinto Tenor“ (Otello in Salzburg und an der Met). Doch er hat auch noch in den letzten Vorstellungen ein offensichtliches Problem mit der französischen Technik und Aussprache. Ein französischer „ténor héroïque“ singt „dans le masque“, also mit hoch angesetzter Stimme. Dann passiert es auch mal einem so perfekten Techniker wie Roberto Alagna, dass man streckenweise etwas zu hoch singt. Doch Antonenko sang fast den ganzen Abend durchgehend einen viertel bis halben Ton zu hoch (außer im Liebesduo). Dazu hatte er einen derart slawisch/russischen Akzent, dass man in seinen Szenen mit dem ebenfalls aus Riga stammenden Egil Silins den Eindruck bekam, die kriegerische Handlung sei von Gaza in die Ukraine verlegt. Solche Sprachfehler waren früher an der Opéra de Paris völlig undenkbar und sorgten beim Publikum für berechtigten Unmut. Sie waren umso unverständlicher, weil Nicolas Testé und Nicolas Cavallier ihre wesentlich kleineren Rollen sprachlich und technisch absolut perfekt sangen und man nicht versteht, warum sie nicht in der so wichtigen Rolle des Hohepriesters besetzt wurden, in der Alain Fondary 1991 so unvergesslich war. Für den Opernchor in seiner großen Besetzung von fast hundert Mann (unter Leitung von José Luis Basso) haben wir nur Lob. Hier wurde wirklich subtil und transparent gesungen, mit Piano und Ritardando. Dieses für die Musik von Camille Saint-Saëns so wichtige „raffinement“ kam auch aus dem Orchestergraben, in dem sich das Orchester der Pariser Oper von seiner besten Seite zeigte.
Es war schon in der Ouvertüre hörbar, dass der Musikdirektor Philippe Jordan für die Wahl von „Samson et Dalila“ verantwortlich war – eine Musik, zu der er deutlich viel Affinität hat und in der er großes Können zeigt. Abgesehen von zwei Sängern, war es eine musikalisch mustergültige Aufführung, über die sich Saint-Saëns sicher sehr gefreut hätte. Vielleicht ist nun die Zeit gekommen, um die anderen zwölf (!!) Opern von Saint-Saëns wieder zu spielen, die inzwischen völlig aus den Spielplänen verschwunden sind – in den meisten Opernführern wird bei Saint-Saëns nur noch „Samson“ erwähnt. Das Palazzetto Bru Zane, das sich so bewundernswert für die vergessene französische Musik des neunzehnten Jahrhunderts einsetzt, hat letztes Jahr eine Aufführung der großen historischen Oper „Les Barbares“ in Saint Etienne mitfinanziert, die man nun auf Platte in ihren schön gestalteten und immer interessanten „Buch-CD’s“ hören und kennenlernen kann (es werden gleichzeitig zahlreiche Dokumente veröffentlicht). Nächstes Jahr wird unter Mitwirkung des Palazzettos in der wiedereröffneten Opéra Comique die seit hundert Jahren nicht mehr gespielte Oper „Le timbre d’argent“ aufgeführt werden. Wir werden im Juni 2017 sicher darüber berichten – denn Franz Liszt hatte Recht: „jede Oper von Camille Saint-Saëns lohnt die Mühe“!
Waldemar Kamer 3.11.16
Bilder (c) Vincent Pontet
Besonderer Dank an unseren Kooperationpartner Merker-online (Paris)