Besuchte Aufführung: 1.4.2015, (Premiere der UA: 24.1.2015)
Bombastisches Stil-Potpourri ohne Zusammenhang
Er zählt zu den herausragenden Erzeugnissen der Weltliteratur: Der Roman „Doktor Schiwago“ von Boris Pasternak, dessen 125. Geburtstag die literarische Welt am 10. 2. 2015 feiern konnte. Bereits im Jahre 1957 in Italien zum ersten Mal veröffentlicht, erfuhr das Buch in der Folgezeit eine Verbreitung rund um die Welt. Es war außerhalb Russlands, wo es weiterhin verboten bleib, in so hohem Maße erfolgreich, dass es seinem Schöpfer den Nobelpreis für Literatur einbrachte, den der aus dem Schriftstellerverband der UdSSR ausgeschlossene und von Ausbürgerung bedrohte Pasternak unter dem Druck der Regierung Chruschtschow indes ablehnte. Im Jahre 1960 starb er, 1987 erfolgte seine Rehabilitierung und 1988 durfte „Doktor Schiwago“ endlich auch in der Sowjetunion erscheinen. Im Jahre 1989 nahm Pasternaks Sohn stellvertretend für den Vater den Nobelpreis entgegen. Dass der Roman auf ein derart starkes Echo stieß, verdankt sich nicht zuletzt der 1965 erfolgten, mit fünf Oscars ausgezeichneten Verfilmung durch David Lean mit Omar Sharif in der Hauptrolle. An dieser Stelle sei angemerkt, dass dieser Film einen weit besseren Ruf genießt als er tatsächlich ist. Er strotzt nur so von künstlich erzeugtem amerikanischem Russen-Kitsch. Da ist die vor einigen Jahren erfolgte Neuverfilmung des Stoffes mit Hans Matheson und Keira Knightley, in der erstklassiger Realismus dominiert, erheblich besser.
Vladimir Baykov (Schiwago), Michaela Schneider (Lara)
Eine Oper nach dem Roman Pasternaks hatte es bislang nicht gegeben. Das hat sich jetzt geändert. Als Auftragswerk des Theaters Regensburg hat der junge russische Komponist Anton Lubchenko, der trotz seiner erst 30 Jahre bereits das Amt des Intendanten der Primorsky-Staatsoper Wladiwostok bekleidet, seinen als musikalisches Drama in neun Szenen betitelten „Doktor Schiwago“ geschrieben, zu dem er gleichzeitig auch das Libretto beisteuerte, das neben der Haupthandlung einige Gedichte Schiwagos aus dem zweiten Teil des Buches enthält. Die ursprünglich geplante weitere Kooperation mit dem Opernhaus in Wladiwostok hat der Komponist aber im Zuge von Streitereien im Vorfeld der Regensburger Premiere abgesagt. Auf diesen Skandal soll jetzt nicht weiter eingegangen werden. Hier steht die Oper im Zentrum des Interesses, die weniger die Liebesgeschichte zwischen Schiwago und Lara behandelt als vielmehr die großen politischen Zusammenhänge. Sie scheint sich bei dem Regensburger Publikum großer Beliebtheit zu erfreuen. An diesem Abend war das Theater gut besucht und das Interesse des Auditoriums groß, was bei einer modernen Oper durchaus keine Selbstverständlichkeit darstellt.
Vitali Ishutin (Strelnikow), Chor
Dass der in der Tradition der russischen Literaturoper stehende „Doktor Schiwago“ bei den Besuchern auf derart begeisterte Zustimmung stieß, ist sicherlich in erster Linie der Tatsache zu verdanken, dass er ausgesprochen tonal komponiert ist und keinerlei quere Töne oder Dissonanzen aufweist. Wüsste man nicht, dass sie neu ist, würde man die Oper ohne weiteres um viele Jahrzehnte zurückdatieren. Lubchenkos größtenteils ausgesprochen dichte, packend und dramatisch gehaltene Musik, der es aber auch nicht an emotionalen Momenten fehlt, ist ein Labsal für die Ohren, ein echter Hörgenuss. Es gibt Stellen in der Partitur, wie beispielsweise den fulminanten Schlussmonolog Laras, die einen in hohem Maße berühren und oft auch regelrecht berauschen. Der große Erfolg, den das Werk in Regensburg hatte, rührt aber auch wohl daher, dass es musikalische Passagen enthält, die dem Publikum vielleicht bekannt erscheinen, vielleicht sogar altvertraut anmuten. Und hier liegt der nicht wegzuleugnende Haken: Die zugegebenermaßen sehr effektive Musik lässt keinen eigenen Personalstil des Komponisten erkennen.
Vladimir Baykov (Schiwago)
Zu sehr orientiert sich Lubchenko an den großen Meistern seines Heimatlandes. So gemahnt das bombastisch eingesetzte Schlagwerk extrem an Schostakowitsch. Und bei den großen Volksszenen, insbesondere derjenigen mit den Glocken, ist der Einfluss von Mussorgskys „Boris Godunow“ unüberhörbar. Es sind in erster Linie die großen Massenszenen, bei denen Putins Hauskomponist Lubchenko sich in ganz großer Form zeigt. Ihnen gehört seine ganz große Liebe, in ihnen schreit er sein Bekenntnis zum Putin-Staat lautstark in die Welt hinaus. Diese ausgesprochen eruptiven Klangballungen sind einerseits zwar von enormer Eindringlichkeit und Effektivität, andererseits aber auch zu sehr den Stilen anderer berühmter, meist russischer Komponisten verhaftet. Neben den bereits genannten Tonsetzern lädt Lubchenko noch Prokofjew, Borodin und Rachmaninow zum Stelldichein ein und gibt bei den etwas ruhiger gestalteten Liebesszenen zwischen Schiwago und Lara noch einen Schuss von Tschaikowskys „Eugen Onegin“ dazu. Sogar eine Bach’sche Fuge und ein simpler Charleston werden hörbar. Heraus kommt ein Potpourri verschiedenster lose aneinander gereihter Stile und mannigfaltiger Zitate, dem aber der große Zusammenhang gänzlich abgeht. Eine sinn- und einheitsstiftende musikalische Dramaturgie wird an keiner Stelle spürbar. Das ist das Hauptproblem der Partitur und der Konzeption allgemein. Wenn es Lubchenko darauf angelegt hat, mit dieser alles andere als originellen Vorgehensweise seinen Patriotismus für Mütterchen Russland damals wie heute vorzuführen, ist ihm das gelungen, aber nur unter Preisgabe seiner künstlerischen Originalität. Dazu kommt, dass es der Musik in den etwas stilleren, manchmal etwas an Kurt Weill gemahnenden Passagen etwas an Prägnanz fehlt. An solchen Stellen verliert der Klangteppich an Prägnanz und Eleganz und driftet schlagartig in die Gefilde der leichten Muse ab. Derartige Brüche tun der Musik ebenfalls nicht gut. Demzufolge hinterließ das Ganze in musikalischer Hinsicht einen zwiespältigen Eindruck.
Vitali Ishutin (Komarowski)
Zu loben ist indes Tom Woods am Pult, der Lubchenkos Partitur zusammen mit dem brillant aufspielenden Philharmonischen Orchester Regensburg auf fulminante Art zum Leben erweckte. Unter seiner versierten Leitung legten sich die Musiker mächtig ins Zeug und erzeugten einen von großer dramatischer Intensität und einer breiten Farbpalette geprägten Klangteppich. Den Sängern, die zu einem Großteil aus Russland angereist waren, war Woods mit seinen gemäßigten Tempi und wohldosierter Dynamik der großen Orchesterausbrüche ein guter Begleiter. Von den Gesangssolisten gebührt die Krone Michaela Schneider, die mit hervorragend italienisch geschultem, differenziert und nuancenreich eingesetztem Sopran die Lara sang. Herrlich, wie sie ihre tiefgründige Stimme in breiten Kantilenen warm und gefühlvoll dahinfließen ließ und dabei mit einem hervorragenden appoggiare la voce aufwartete. Ihr hohes Niveau wurde von Vladimir Baykov als Schiwago nicht erreicht. Zwar war auch er auf große Ausdruckskraft des Vortrags bedacht, setzte dabei aber auf einen etwas zu variablen Stimmsitz. Mal wies sein robuster Bariton eine tiefere, mal eine höhere Fokussierung auf. Und die Deklamation rangierte bei ihm vor schöner Linienführung. Schauspielerisch in der Doppelrolle des Partisanenführers Strelnikow und des schmierigen Anwalts Komarowski trefflich war der Tenor Vitali Ishutin. Stimmlich konnte er mit seinem flachen, insbesondere in der Höhe oft grellen Tenor nicht überzeugen. Als Verwundeter im Militärhospital war sein Stimmfachkollege Alexei Kostiuk um schöne Linienführung und emotionalen Ausdruck redlich bemüht, sang aber auch ziemlich dünn. Zudem war er als 1.Verräter, 2. Gast und 1. Schriftsteller zu erleben. Obwohl es auch seinem Tenor noch etwas an einer tiefen Stütze mangelt, war Brent L. Damkier in den Partien des 2.Verräters, 2. Gastes und 2. Schriftstellers seinem Kollegen überlegen. Ebenfalls nur durchschnittlich präsentierte sich Andrej Popov als Siwobljui, Partisan und Betrunkener. Einen sauber durchgebildeten, elegant ansprechenden Mezzosopran brachte Vera Egorova für die Kubaricha und die Marina mit. Einen guten Tag hatte Mario Klein, der mit sonorer Bassstimme den Wächter und den Markel sang. Gut gefiel der von Alistair Lilley einstudierte Opernchor des Theaters Regensburg.
Vera Egorova (Marina), Chor
Silviu Purcarete setzt bei seiner Inszenierung auf ein Gemisch naturalistischer und traumhaft-surrealer Elemente. Dabei erzählt er das Ganze aus der Perspektive des als Alter Ego Pasternaks vorgeführten Schiwago. Helmut Stürmer hat ihm einen karg-nüchternen Raum auf die von vorbeiziehenden grauen Wolkenprojektionen beherrschte Bühne gestellt. Dessen fehlendes Dach spielt auf einen Kernsatz des Werks an: „Russland hat sein Dach verloren nachts im Sturme“. Über eine visuelle Impression wird hier gleichzeitig Revolution und Patriotismus ins Spiel gebracht. Die bereits zu Beginn projizierten russischen Soldaten des Ersten Weltkrieges zeigen, das Purcarete die Handlung in der erzählten Zeit spielen lässt, worauf auch die Kostüme von Corina Gramosteanu hinweisen, und dabei ohne jegliche Verfremdungen auskommt. Er spricht „Doktor Schiwago“ ganz zu Unrecht seine Bedeutung für die heutige Zeit ab und inszeniert brav am Textbuch entlang. Mit Hilfe der häufig eingesetzten Drehbühne sowie von Podien und Versenkungen wird ein breites räumliches Spektrum erzeugt. Das mit Krankenbetten ausgestattete Lazarett weicht zuerst einem Bunker, später einem politischen Zentrum und dem Haus von Schiwago und Lara. Sie sind nur noch Marionetten in den Händen von Komarowski, was seitens der Regie durch drei Puppen trefflich versinnbildlich wird. Hier nimmt das Geschehen zudem den Charakter eines Kammerspiels Strindberg’scher Prägung an. Zunehmend wandelt sich die Realität zu einem Alptraum und mutieren Gas- zu Tiermasken, die praktisch den ganzen Abend über präsent bleiben. Strelnikow hält seinen Disput mit Schiwago von einem versenkten Badezuber aus, in den später auch Kubaricha steigt. Die von ihm gepflegte Revolution ist indes erfolglos. Sie vermag dem zugeschneiten Kreml nichts mehr anzuhaben, mag Strelnikow auch noch zu sehr die rote Fahne schwingen. Die intendierte politische Erneuerung ist gescheitert, genau wie die Liebe von Schiwago und Lara, die ihren großen Schlussmonolog an seinem Sarg singt. Insgesamt haben wir es hier mit einer insgesamt soliden Inszenierung zu tun, der aber leider der durchaus vorhandene aktuelle Bezug fehlt. An das, was beispielsweise eine Andrea Moses aus dem Stoff gemacht hätte, darf man gar nicht denken.
Ludwig Steinbach, 5.4.2015
Die Bilder stammen von Jochen Quast