Nürnberg, Ballett: „Shechter / Montero“

„Du weißt, dass ich für den Tanz nicht viel übrighabe. Seine Ausdruckskraft steht im allgemeinen auf keinem höheren Niveau als die primitivste Programm-Musik, und seine Schönheit‘ ist mir in ihrer versteinerten Mechanik odios. Nun ist es mir bis jetzt gelungen, solche Bewegungen zu erdenken, welche wenigstens ein anderes Ausdrucksgebiet betreten als das landesübliche Ballettgehüpfe.“

© Jésus Vallinas

Was für ein Zufall. Da liest der Rezensent am Nachmittag in einer Biografie Arnold Schönbergs die vielzitierten Worte, die der Komponist vor bald 100 Jahren der Choreographie des Tanzes um das Goldene Kalb in seiner Oper „Moses und Aron“ gewidmet hat – und am Abend sieht eben dieser Rezensent hochexpressive Tanz-Bilder, die durchaus „ein anderes Ausdrucksgebiet betreten als das landesübliche Ballettgehüpfe“. Das macht: die je individuelle Sprache der beiden Choreographen, die, so sehr sie auch dem modernen Tanztheater verpflichtet sind, uns immer wieder mit originellen Schöpfungen, ja: beglücken. Denn so oft auch zumal Goyo Montero, der Chef der Nürnberger Compagnie, eine neue Arbeit an der Pegnitz zeigt, so sehr vermag er es, innerhalb seiner Grammatik immer wieder andere Sätze zu formulieren und unbekannte Geschichten zu erzählen. Steht auch diesmal der Gastchoreograph an der Spitze der konzisen Titel-Namens-Nennung des zweiteiligen Programms, so eröffnet er den Abend. Auch hat er Recht: so unterschiedlich auch die Handschriften Monteros und Hofesh Shechters aussehen, so sehr verbindet beide Stücke doch der Wille zu einem Ausdruck, der nichts als packen will. Und weil auch Shechters Arbeit auf tanztechnisch höchstem Niveau mit Witz und Eleganz, Rapidität und Konzentration, Kraft und Humor agiert, prasselt am Ende des Abends der Beifall ebenso auf diese Compagnieauswahl wie auf jene, die Montero für sein Projekt benötigte.

© Jésus Vallinas

Bräuchte es die ausführlichen Erläuterungen, die Montero, wie üblich, im Programmheft fixiert hat? Jein, denn auch ohne die Hinweise auf den gesellschaftlich-lokal-überregionalen Hintergrund (der Choreograph erarbeitete Arbeit zunächst für ein brasilianisches Ensemble) wird das Menschlich-Allzumenschliche in „Anthem“ offenbar. Wieder – das ist das Montero-Motiv per se – stehen sich in dieser deutschen Erstaufführung die Individuen und das Kollektiv gegenüber. Wieder wird die Frage der Menschlichkeit, diesmal von der Wiege bis zu einer imaginären Bahre, verhandelt; die sechsteilige Szenenfolge orientiert sich, samt Hebungen, Drehungen und Armrecken, samt Sprüngen, Läufen und Liegen, an anthropomorphen Grundlagen und politischen Illustrationen: vom „Atem“ und dem „Liebeslied“ über „Nationalhymne“ und „Wiegenlied“ zu „Protest“ und „Todesatem“. Das beginnt organisch-atavistisch, aus Gruppenflattern löst sich der/die Einzelne, das Paar, die Hymne erlaubt nur noch aggressiv ausschlagende Marionettenbewegungen, im Wiegenlied, mit Spieluhrklang, kommunizieren immerhin noch Gliederpuppen, der Protest entbindet sich im typisch monteroschen Schrei – und der „Todesatem“ bringt zwar die Dunkelheit auf die diesmal von Nicolás Fischtel beleuchtete, ungewöhnlich warmtönige Bühne, doch schauen wir schließlich und immer noch auf eine sehr lebendige Frau im Licht eines Scheinwerfers.

So interpretatorisch durchsichtig auch manch Szene daherkommt, so offenbleiben doch die Angebote, die der Choreograph dem Publikum macht. Monteros Tanztheater ist kein animierter Leitartikel zur Lage der Nation und der Welt, die gefälligen Hinweise überlässt er der Theorie, für die der Nachweis seiner Lektüre von Yuval N. Hararis „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ genügen muss (und die Tatsache, dass just am Tag der besuchten Aufführung die Süddeutsche Zeitung sich kritisch mit den apokalyptisch anmutenden Thesen des politischen Denkers auseinandersetzte). Montero unterfordert seine Zuschauer und -hörer in keinem Fall; immer noch verbinden sich Ästhetik und Aussage zu einem hinreißenden Amalgam.

© Jésus Vallinas

Owen Belton, Monteros Hauskomponist, hat diesmal einen Soundtrack kreiert, der aus gesampelten Fragmenten seiner persönlichen Stimm-Einspielungen besteht und dem ersten Teil eine schöne Künstlichkeit zumutet, wie sie Monteros Tanztheater angemessen ist: Electro works. Wesentlich lauter kracht es in den Zuschauerraum hinein, wenn Shechters Truppe auftritt. Hier gewinnt der Sound an Stärkegraden, die den Griff zu den von den netten Garderobendamen ausgeteilten Ohrstöpseln dringlich machen. „Pop(o)“, denkt der machistisch-sexistisch gepolte Tanztheaterfreund, wenn er auf die Bühne schaut und sich die in hautenge Latexanzüge hineingestylte Tänzer anschaut – so wie bei Montero die Tänzerinnen und Tänzer Anzüge tragen, die quasi realistisch ihre Körperformen abbilden. Shechter, hat in Nürnberg bereits mit „Dog“ und „Disappearing Act“ zwei Arbeiten vorgestellt, in denen zum einen die wilde, darwinistische Jagd ums Dasein, zum anderen ein Kollektiv vorgestellt wurde, das im dunklen Raum mit reichlichem Head-Banging eine Art schamanistisches Ritual durchtanzte. Ganz anders nun „tHE bAD“: Kopfnicken, ostinatohaftes Rumpfnachvornziehen, Gruppentanz – all das gibt es auch in der neuen, unterhaltsamen Arbeit, doch nun gewinnt selbst das von Shechter und Lawrie McLennan erdachte Lichtdesign im dunklen Bereich magische Qualitäten, in denen das Kollektiv zum bewegten Ornament wird. Es macht einfach Spaß, die goldenen Figuren anzuschauen, die – als wär‘s Disco, aber es ist nicht Disco – zu Shechters Eigenkomposition und zu Musik von Mystikal zwischen Unkompliziertheit und Aufregung hin- und herlaufen und einfrieren, wenn plötzlich Jordi Savalls spätmittelalterliche Zauberklänge den Raum fluten.

© Jésus Vallinas

Doch seltsam: So wenig Individualität sich auch in Shechters Choreographie entlädt, so sehr ist man gespannt, wie die unerzählbare Geschichte, die Bewegung, die Kommunikation, nicht zuletzt der feine Humor mancher Gruppenbewegung, weitergehen werden. D.E. Fischer hat in ihrer „Kurzen Geschichte des Tanzes“ dem Choreographen eine „explodierende Energie und gewaltige Bildersprache“ attestiert; in Nürnberg freut man sich über die fixierten Ergebnisse eines über weiten Streckens improvisatorischen Probenprozesses – in leuchtendem Gold, untermalt von herzschlaghaftem Pochen, ganz l‘art pour l‘art, ohne den Sinn fürs sog. wahre Leben zu verlieren. Ebenso wie bei Montero: die Aufhebung der Widersprüche zwischen höchster Artifizialität und dem, was uns anrührt.

Wie gesagt: Riesenapplaus für zwei packende Choreografien und ein fantastisch gutes Ensemble. Mehr als das landesübliche Ballettgehüpfe? Mehr als das übliche Gehüpfe!

Frank Piontek, 12. Mai 2023


Shechter / Montero

Premiere am 29. April 2023

Inszenierung: Goyo Montero / Hofesh Shechter

Ausstattung: Fábio Namatame, Goyo Montero, Hofesh Shechter

Ballett-Compagnie des Nürnberger Staatstheaters