Wien: „Lulu“, Alban Berg

Die Verzweiflung muss allerorten eine händeringende sein, bei den Theater- und Opernregisseuren wie auch in den Chefetagen. Was könnte man noch machen, dass alles bisher Dagewesene aussticht, dass schräg, verrückt und herausfordernd genug ist, um zum allgemeinen Gespräch in der Branche zu werden, damit man nicht etwa nachhinkt in der heute einzig gültigen Kunst, den alten Werken neue Kleider zu verpassen?

Das MusikTheater an der Wien des Stefan Herheim hat es nun geschafft, eine „Lulu“-Produktion zu bieten, die es an Entfernung von dem Original mit dem Video-„Freischütz“ aufnehmen kann. Dafür holte man mit Marlene Monteiro Freitas eine Tänzerin und Choreographin – logisch, dass diese ihr Genre in die Oper einbringen, also eine tänzerische Ebene einziehen wird. Die Tänzer tanzen (wenn man das richtig verstanden hat) die Gefühle, die Sänger… ja, was tun die? Auf jeden Fall singen. Und sich seltsam eckig, mit vielen Symbolbewegungen (auch „Choreographie“) verhalten. Menschen werden da keine daraus.

Dazu hat Marlene Monteiro Freitas, die auch für die Kostüme verantwortlich zeichnete, sie alle gleich gekleidet – dunkle Anzüge, weiße Hemden bzw. Blusen. Alle tragen dazu blaue Turnschuhe. Die Tänzer verfügen noch über weiße Tücher, mit denen sie gegebenenfalls ihr Haupt verhüllen. Und zu Beginn sind die über-präsent.

(c) Monika Rittershaus

Wenn man Lulu, Dr. Schön und den Maler anfangs links an Tischchen mit Mikrophonen sitzen sieht, hegt man den Verdacht, die „Regisseurin“ wolle ihre Akteure wegsperren (wie es Christof Loy 2011 in Salzburg getan hat, als er die „Frau ohne Schatten“ in das Studio einer Schallplattenaufnahme sperrte und sich so um das ganze Stück drücken konnte). Aber nein, die Akteure dürfen nach und nach mitspielen – nur was? Evident ist den ganzen Abend lang, mit welcher Ratlosigkeit die Choreographin als Regisseurin dem Werk gegenüberstand, dem mit reiner Bewegungsregie nicht beizukommen ist.

Die bedauernswertesten Opfer im Publikum sind jene Besucher, die „Lulu“ vielleicht zum ersten Mal sehen und nicht damit vertraut sind, was sich in dieser Oper abspielt. Sie werden in einer Dekoration, die das Orchester nach oben hinten verbannt und davor wirkt wie ein Schiffsdeck für „Ich war noch niemals in New York“ (Bühne; die Regisseurin mit Yannick Fouassier, der auch seltsame Lichtspielchen bietet), nicht einen Hauch von Ahnung davon erhalten. Allein die uniforme Kleidung erlaubt es nicht, die einzelnen Figuren wirklich auseinander zu halten, geschweige denn zu charakterisieren, die abstrakten Bühnenelemente, die von den Tänzern herumgeschleppt werden, kennzeichnen keine Schauplätze, Who is Who und wer tut was warum, bleibt völlig in der Willkür-Suppe verborgen.

Denn vor allem die Aktionen der Tänzer sind – da mag man noch so viel von „Konzept“ plaudern, wie man will – undurchsichtig und austauschbar, alles könnte auch ganz anders sein, ob sich Hände (auch in Blau, wie die Füße) kunstvoll recken, ob der Boden gekehrt wird, ob man sich in Verzerrungen wie Krüppel gebärdet. Sicher, das mag modernes Ballett sein, es „Lulu“ aufzupfropfen, Bewegungs-Marionetten über die Bühne zu schicken, ruiniert das Werk total. Die Geschichte der mörderischen Verführerin findet nicht statt.

Soll wohl auch nicht, wenn man die Rolle mit Vera-Lotte Boecker besetzt (die in der Roscic-Staatsoper so prominent dabei war und plötzlich von dort verschwunden ist). Mit ihren aufgesteckten Haaren und Stirnfransen, im Bürodress, wirkt sie wie eine beflissene Chefsekretärin, die erst nach der Pause irgendwann ihr Haar löst und ein bisschen auf erotisch macht, ohne dass man es ihr glaubt. Immerhin, sie singt die Rolle vorzüglich, ihr quellklarer, heller Sopran ist auch mit Bergs wildester Exzentrik nicht überfordert, und man könnte sich vorstellen, dass in ihr eine echte Lulu steckt – wenn man sie ließe.

Ein so erfahrener Sänger wie Bo Skovhus weiß als Dr. Schön, wie man sich gegen Nicht-Regie durchsetzt, indem er mit Gesicht und Gestik alles spielt, was in diesem Mann an Verzweiflung wohnt. So stark wie er ist kein anderer, wenngleich Cameron Becker als Maler aufhorchen lässt, mehr noch als Edgaras Montvidas in der Rolle des Alwa.  In einer Inszenierung, die nur eine Kopfgeburt aus Bewegung darstellt, können auch Persönlichkeiten wie Anne Sofie von Otter als Geschwitz oder Kurt Rydl als Schigolch erstaunlich untergehen. Und alle anderen leider überhaupt.

Da man nirgends las „vollendet von Friedrich Cerha“, schien klar, dass man den dritten Akt nur so weit spielen würde, wie Berg mit der Komposition gekommen ist. Mitnichten – er findet nicht statt. Es gibt bloß zu den Klängen der Lulu-Suite den Auftritt eines verkrüppelten, wie eine Mumie verpackten Geschöpfs mit einem Puppengesicht aus Zelluloid – und das war’s dann. Was es war? Vielleicht weiß es der Intendant?

Was man musikalisch retten konnte, unternahm Maxime Pascal am Pult des ORF Radio-Symphonieorchester Wien. Einen so kurzen Schlußapplaus hat man noch nie erlebt, der sich nur beim Erscheinen von Vera-Lotte Boecker zu einiger Herzlichkeit aufschwang. Als sich ein paar Buh-Rufer nicht durchsetzen konnten, wurde die allgemeine Flucht angetreten. Kein wahrer Opernfreund kann mit dieser Tanztheater-Kopfgeburts-Inszenierung einer ahnungslosen Choreographin einverstanden sein. Das Ergebnis: Eine „Lulu“, die Lichtjahre von „Lulu“ entfernt war.

Renate Wagner 30. Mai 2023


LULU von Alban Berg

WIEN / Wiener Festwochen

MusikTheater an der Wien

Premiere: 27. Mai 2023

Regie: Marlene Monteiro Freitas