Staatsoper Hamburg, besuchte Vorstellung: 3. November 2021
Die Beständigkeit der Illusion
Gustav Mahler hat einmal gesagt, daß das Wichtigste in der Musik nicht in den Noten steht. Das Innerste an Psychologie aus einem Bühnenstück zu holen, indem dessen Worte nicht gesprochen, sondern die Handlung getanzt wird, scheint John Neumeiers Ansatz gewesen zu sein, als er die Choreographie für seine Interpretation von Tennessee Williams „Glasmenagerie“ entwarf. Tatsächlich hat er so etwas im Interview mit Jörn Rieckhoff angedeutet, in dessen weiterem Verlauf er keinen Zweifel daran läßt, daß die zerbrechliche Laura für ihn in seiner persönlichen Rezeption des Dramas eine zentrale Rolle spielt.
Zerbrechlich sind auch Lauras Glastiere, deren Kristallglitzern sie in eine Phantasiewelt hinüberschweben läßt. Schweben kann sie selbst, die herausragend von Alina Cojocaru dargestellt wird, mit ihrer Gehbehinderung nicht; das Hinken hindert das zarte Mädchen daran, selbstbewußt aus der Enge der kaputten Familie hinaus in die Welt zu treten. In dieser wiederum versucht ihr Bruder Tom, sein Leben mit all seinen Enttäuschungen zu bestehen, scheitert aber an der harten Realität und fehlender eigener Standhaftigkeit, denn er betäubt seine Verzweiflung über sein Scheitern als Dichter mit Alkohol. Tom ist Félix Paquet, sein alter ego Tennessee, der über sein Leben reflektiert, Edvin Revazov. Beide bilden in völliger tänzerischer Übereinstimmung die komplexe Konstruktion eines Charakters ab, der im Bühnenstück sowohl die Erzählebene übernimmt als auch Akteur ist.
In der Ballett-Adaption träumt Tom von einer Karriere als Zeichner – ein geschickter Kunstgriff Neumeiers, der ihn damit in die Nähe des Autors Williams bringt, der gerne zeichnete und malte. Ein Selbstportrait findet sich im opulent aufgemachten Programmheft. Eine weitere Assoziation zu Williams, dessen Werk ja ohnehin voller autobiographischer Bezüge ist, entsteht durch Toms Besuch einer Schwulenbar. Das hätte der Autor in den 40er Jahren nicht bringen können, der noch 1979 wegen seiner Homosexualität zusammengeschlagen wurde.
Amanda, die Mutter der beiden, eine überzeugend in sich zerrissene, leidende Patricia Friza, hängt ihren Erinnerungen an die Verehrer in ihrer Jugend nach, die alle gleich gekleidet und völlig austauschbar sind. In diesen Tagträumen erscheint auch immer wieder ihr Ehemann, ebenfalls Edvin Revazov, der die Familie sitzenlassen und seine Frau in die Einsamkeit gestoßen hat. Einsam in sich sind tatsächlich alle Figuren, die Hauptfiguren familiär verstrickt, aber doch letztlich auf sich selbst geworfen. Die für Neumeier so typischen harten Bewegungen und Körperknicke, die Bilder des Nicht-von-der-Stelle-Kommens geben den gebrochenen Sehnsüchten der Protagonisten eine dynamische Plastizität; dann sind die Familienmitglieder wieder knotenhaft ineinander verschlungen, schaffen es aber nicht, eine stabile Gemeinschaft aufzubauen. Das tiefe Gefühl der Einsamkeit vermittelt auch die Musik von Charles Ives, in der eine schwelgerisch-sehnsüchtige Grundstimmung immer wieder durch atonale Bläsermotive durchschnitten wird. Die hervorragend ausgewählten und vom Philharmonischen Staatsorchester Hamburg unter der Leitung von Luciano Di Martino großartig gespielten Stücke streichen sowohl Atmosphären als auch jeweilige psychische Dispositionen heraus und malen dunkle Seelen-Klangbilder oder schaffen eine filmische Stimmung wie die Musik von Ned Rorem. Die Werke von Philip Glass in ihrer quirligen Dynamik nutzt Neumeier für die Darstellung von Hektik und Getriebenheit wie beispielsweise in der Szene in der Schuhfabrik, in der Tom arbeiten muß, um die Familie als Ersatzvater über Wasser zu halten.
Wer mal in der Paketpost gearbeitet hat, weiß, was die stundenlange Akkordarbeit mit umhergeschmissenen Paketen und der ständigen Angst, sein Soll nicht erfüllen zu können, aus Menschen macht. Wer die Kette unterbricht, gefährdet die Arbeit aller und wird entsprechend genmaßregelt, das Individuum zählt hier nichts – es hat nur zu funktionieren. Wie die Tänzer dieses wirbelnde Ineinander meistern, ist großartige und harte choreographische Arbeit, in der, wie in der Fabrik, kein Fehler passieren darf. Für alle Tänzer bzw. die Choreographie gilt, daß der Ausdruck und die Handlung im Vordergrund stehen; selbstgefällige meterweite Sprünge und übertriebene Pirouetten fehlen. Virtuos sind alle Darbietungen dennoch oder gerade deswegen, weil die exakte Beherrschung der komplizierten Bewegungsabläufe auch von den kleinen Rollen garantiert ist. Die schaffen mit dem geschickt eingesetzten, sehr wandelbaren Bühnenbild eine Mehrschichtigkeit und Raumtiefe, wenn zum Beispiel beim Basketballspiel die Tänzer sowohl vor als auch hinter einer transparenten Leinwand agieren, auf der Filmausschnitte aus einem Basketball-Spiel flimmern. Alles auf der Bühne bleibt Kulisse, was die Konzentration auf dem getanzten Geschehen hält. Die angedeutete Wohnung klappt immer mal wieder zusammen, fast alle anderen Aspekte sind ebenfalls mobil. Lediglich zwei Fluchttreppen, die so typisch für amerikanische Stadthäuser sind, stehen rechts und im Bühnenhintergrund. Aber diese Fluchten führen ins Leere, denn die Häuser fehlen. Man kann nach oben und unten, aber nicht in ein Inneres, der Weg ist sinnlos wie das Sich-Abhetzen in einem Hamsterrad, in dem jeder für sich nach Anerkennung und Glück japst, aber nichts davon erreicht. Es bleiben Träume und Illusionen. Beständig scheinen auch die Glastiere zu sein, die glitzernd am linken Bühnenvordergrund stehen.
Doch sie können nur seelenlos funkeln und jeder weiß, daß mindestens eines davon Schaden nimmt. Das von Laura so geliebte Einhorn, ein Sinnbild der Unschuld, wird seines Kopfschmuckes und damit seiner Einzigartigkeit beraubt, als Toms Arbeitskollege Jim zum Abendessen kommt und mit seiner ungeschickten Art nicht nur das Horn ab-, sondern auch Lauras Herz bricht. Den von Amanda als erhofften Schwiegersohn jungen Mann stellt Christopher Evans elegant und sympathisch dar. Nachdem er sich zuerst Laura zugewandt hat, rückt er mit der Nachricht heraus, bereits verlobt zu sein – ein überraschender, für die Familie und Laura harter Umschwung. Die junge Frau bläst schließlich einsam auf dem Boden kauernd die Kerzen des Leuchters aus, die wie Lebenslichter oder kleine Flammen der Hoffnung verglimmen. Trauriges Ende einer großartigen Produktion, die zu Recht „Gesamtkunstwerk“ genannt werden darf. Der begeisterte Applaus galt allen Mitwirkenden, aber deutlich vor allem Alina Cojocaru als Laura und John Neumeier, der zwischen Noten und Worten liest.
Andreas Ströbl, 4. November 2021
Photos: Kiran West