Man könnte sich kurz fassen: Diese Neuproduktion von Verdis DON CARLO am Theater St.Gallen ist optisch UND musikalisch eine Wucht.
Doch eine Kurzfassung haben die Verantwortlichen auf und hinter der Bühne und im Orchestergraben natürlich nicht verdient. Beginnen wir also mit dem Augenfälligsten, den Kostümen, welche die Modedesignerin Alexandra Facchinetti entworfen hatte (sie arbeitete für Gucci, Valentino, Prada u.a. und führt nun ihr eigenes Designstudio). In ihrer ersten Arbeit für das Theater schuf Alexandra Facchinetti Kostüme von einer Opulenz sondergleichen, mit einer prachtvollen Ästhetik und einem sensationellen Detailreichtum (die fantastischen Samstickereien und Spitzen wurden vom St.Galler Traditionsunternehmen Forster Rohner AG grosszügig unterstützt). Dabei sind diese Kostüme nicht bloss Selbstzweck, sonder zeichnen die Charaktere und ihre Befindlichkeiten sehr präzise.
Manche Figuren drohen in ihren Roben beinahe zu ersticken (Elisabetta di Valois). Andere heben sich deutlicher vom strengen Regime ab, erscheinen moderner, bürgerlicher, intellektueller (Don Carlo, Posa) oder farblich und vom Schnitt her ungebundener (Eboli). Stilistisch bewegen sich diese Kostüme in der Entstehungszeit der Oper, dem Second Empire um 1870. Hier hat Regisseur Nicola Berloffa die Inszenierung angesiedelt, in einer absolutistischen Monarchie in ihren letzten Zügen, deren Auf- und Ablösung spürbar wird. Dabei verzichtete er ganz und gar auf Aussenräume, unterstreicht damit den „Gefängnis“- Charakter des Stücks, einem teils goldenen, teils realen Gefängnis, in welchem die Personen gefangen sind. Als Einheitsraum entwarf Fabio Cherstich einen mit roter Tapete ausgeschlagenen, grossen Raum mit riesigen Flügeltüren links und rechts. In diesen Raum hinein wird von oben für gewisse Szenen ein weiterer, kleinerer Raum heruntergelassen, mal hell, mal pechschwarz (für die Gefängnisszene). Auch das Autodafé findet im Inneren dieses Palastes statt. Hier zeigt sich, woher Berloffa eine seiner Inspirationen für die Inszenierung her hatte, vom Gemälde Der Empfang der Gesandten aus Siam in Fontainebleau von Jean-Léon Gérôme von 1865. Auch bei Berloffa sind es nämlich nicht Gesandte aus Flandern, die um Gnade bitten, sonder südostasiatische Männer in traditioneller Tracht (auch hier kostbarste Stoffe vom Allerfeinsten). Das macht insofern Sinn, als im 19. Jahrhundert Frankreich seinen Einflussbereich in Südostasien ausweitete und Teile von an Siam angrenzenden Gebieten kolonialisierte.
Nicola Berloffa hat in seiner Arbeit am DON CARLO vieles ausgezeichnet durchdacht und sinnfällig gemacht. Dabei hat er den Schwerpunkt feinfühlig mehr vom Schicksal Don Carlos weg und hin zu Elisabetta verlagert. Das macht nur schon der Beginn deutlich, wo man die beiden Damen Elisabetta und ihre Vertraute, die Contessa D’Aremberg, verängstigt nebeneinander stehen, einander Halt geben sieht.
Indem Berloffa die Contessa auch die Gesangspartie des Tebaldo singen lässt, erhält die Figur das notwendige Gewicht, um überhaupt wahrgenommen zu werden (der Tebaldo hat nämlich ausser stimmlichem Kolorit absolut keine Bedeutung für die Handlung), die D’Aremberg hingegen schon, da nur so die Demütigung Elisabettas durch den König verstanden werden kann. Klug auch, dass Elisabetta und ihre Vertrauten (Contessa, Posa) in intimen Szenen und Momenten der Trauer, der Einsamkeit französisch singen, der Muttersprache Elisabettas, und damit die Verlorenheit Elisabettas am fremden Hof zeigen, an den sie durch die politisch motivierte Heirat mit Filippo II. versetzt wurde. Die Personenführung durch den Regisseur ist wohltuend zurückhaltend, manchmal hätte man sich vielleicht eine etwas deutlichere Handschrift gewünscht, um den Rückfall in die traditionelle Operngestik zu vermeiden. Kamen daher am Ende vielleicht die (total unangebrachten) wenigen Buhrufe für das Inszenierungsteam? Interessant war die Ansetzung der Pause nach der Szene mit der Verwechslung im Garten (hier natürlich im grossen Saal und mit der aus der Urfassung übernommenen – wichtigen – Szene des Schleiertauschs), also noch vor dem Autodafé, welches den zweiten Akt beschliesst. Doch auch dies war natürlich wohl durchdacht, denn Berloffa lässt das Autodafé mit der totalen Vereinsamung des Königs enden (die Gesellschaft und die Familie wenden sich vom absolutistischen Herrscher ab) und somit nahtlos in den dritten Akt übergehen, zu Fillippos grosser Szene Ella giammai m’amò. Ab dem Autodafé steigern sich zudem die dramatische Spannung des Werks und der Inszenierung zum bewegenden Drama, und man realisiert einmal mehr, dass DON CARLO zu Recht von vielen Verdi-Verehrern als sein psychologisch stärkstes Werk angesehen wird.
Ein Werk natürlich, das entsprechend starke Interpreten verlangt. Die standen in St.Gallen wahrlich zur Verfügung. Tareq Nazmi verkörperte den Filippo II mit unfassbar bassgewaltiger stimmlicher Durchdringung. Die traumhaft schöne, ausgeglichene Farbe seiner Stimme, die tiefgründige Auslotung der seelischen Zustände, dieses Eingesperrtsein in die Rolle und das strenge Zeremoniell des Herrschers, die Enttäuschung über seinen Sohn, das Schwanken zwischen Vaterliebe und religiösen Zwängen und Abhängigkeiten, die Kälte seiner Beziehung, all dies zeigte Tareq Nazmi mit einfühlsamer darstellerischer und stimmlicher Gestaltungskraft. Ein Leistung zum Niederknien. Alex Penda gab eine stimmlich eine starke Elisabetta mit breitem Ausdrucksspektrum, bei dem einzig die etwas zarteren Aspekte fehlten. Beeindruckend hingegen ihr unglaublich starkes tiefes Register und die Sicherheit der Intervallsprünge in ihrer grossen Arie Tu che le vanità im vierten Akt. Mit Anmut und Grandezza trug sie nicht nur ihre wunderschönen Kleider, sondern auch ihr Schicksal.
Eduardo Aladrén war dieser schwächliche Sohn, der sich auf Drängen seines Freundes Posa aufmacht, die Enttäuschung über die an seinen Vater verlorenen Frau durch revolutionären Geist wettzumachen. Im ersten Auftritt wirkte er stimmlich noch etwas unausgeglichen, kämpfte im leiseren Bereich mit der Intonation, doch steigerte er sich im Laufe des Abends zusehends, nicht zuletzt weil er sich auf die effektvolle Wirkung und die Höhensicherheit seiner Durchschlagskraft verlassen konnte. Somit verblieb er zwar durchgehend im forte und fortissimo Bereich, dort aber sehr gut aufgehoben. Ganz anders der Marchese di Posa von Nikolay Borchev, der mit der weichen, differenzierten Gestaltung seines Baritons berührte. Genauso subtil wie seine Gesangslinien setzte er seineMimik ein. Nur schon die Blicke, mit denen er die Principessa Eboli tadelte, als sie zu neugierig wurde, sprachen Bände. Alessandra Volpe machte diese Eboli stimmlich zu einem Ereignis, bekundete weder mit den diffizilen Fiorituren der Schleierarie, noch mit den dramatischen Ausbrüchen im Terzett oder in der Bravourarie O don fatale irgendwelche Mühe. Wunderbar konnte sie in dieser Arie von brachialer Wucht zu zarten Tönen im Mittelteil wechseln (o mia regina). Der Grande Inquisitore war hier weder blind noch alt. Im Gegenteil, er liess es sich nicht nehmen, den Posa eigenhändig zu erschiessen (war ja auch seine Idee). Ernesto Morillos Bass verfügte über genau die erforderliche „dreckige“ Schwärze dieses kirchlichen Machtpoitikers, um die Auseinandersetzung mit Filippo im dritten Akt zu einem mitreissenden Wettstreit der beiden Bässe zu machen, einem der vielen meisterlichen kompositorischen Einfälle Verdis. Sheida Damghani war darstellerisch eine rührende Contessa D’Aremberg und bezauberte mit ihrem (von Tebaldo entlehntem) Gesang. Der Conte di Lerma ist eine nicht sehr dankbare Rolle, die von Riccardo Botta ansprechend interpretiert wurde. Kurz ist auch der Auftritt des Araldo reale, Nik Kevin Koch meisterte die nicht zu unterschätzenden a capella Phrase mit bewundernswerter Sicherheit. Sehr einnehmend und präsent sang Tatjana Schneider die Voce dal cielound Martin Summer beeindruckte einmal mehr mit seinem fantastischen, klangvollen Bass als Frate (und Stimme Kaiser Karls V.) aus dem Off.
Modestas Pitrenas dirigierte Verdis dramatische Partitur mit kräftigen, aber nie schmetternden Akzenten, vorwärtsdrängend und auf Durchhörbarkeit angelegt. Wunderschöne Einzelleistungen des Sinfonieorchesters St.Gallen stiegen aus dem Graben auf, so z.B. das Solocello in Filippos grosser Szene. Die Hörner intonierten das diffizile Vorspiel mit einer grandiosen Sicherheit und Sauberkeit, die man nur selten so hört. Wie immer glänzten der von Michael Vogel einstudierte Chor und der Opernchor St.Gallen mit einer stimmschön austarierten Leistung.
So richtig Gänsehaut gab es dann am Ende des letzten Aktes, als Don Carlo zuerst auf den Grossinquisitor losging und dann an der Spitze des Trauerzugs (Posa wird zu Grabe getragen) der hoffentlich lichteren Zukunft entgegenschreitet, während die Figuren des Ancien Régime gebrochen zurückbleiben. Stark – wie der ganze Abend!
Kaspar Sannemann 4.11.2018