Besuchte Vorstellung: 19.05.2018
Hochspannend begeisternder Opernabend
Das Theater St.Gallen entwickelt sich immer mehr zu einem Mekka für die Liebhaber von Bellinis süchtig machenden melodie lunghe, lunghe, lunghe (wie Giuseppe Verdi sie nannte). Nach der fulminant besetzten LA SONNAMBULA (2010) und der geradezu exemplarisch Massstäbe setzenden NORMA (2016 – man darf sich bereits auf die Wiederaufnahme in der kommenden Saison freuen) stellt das Theater St.Gallen nun also die eher selten auf den Spielplänen auftauchende Oper IL PIRATA zur Diskussion. Und erneut gelingt der kleinen Bühne ganz Grosses: Ein szenisch und musikalisch hoch spannender, begeisternder Opernabend, ein Plädoyer für das Werk und die italienische Romantik. Diese Romantik kommt hier in der Inszenierung von Ben Baur in einem quasi filmischen Gewand daher, Assoziationen an Viscontis IL GATTOPARDO und Meisterwerke des italienischen Neorealismo der 40er Jahre (gegen Ende des 2. Weltkriegs) werden durch das Bühnenbild (ebenfalls von Ben Bauer), die Lichtgestaltung (Mariella von Vequel-Westernach) und die Kostüme (Uta Meenen) evoziert, sie geben der Oper plastische Struktur, kratzen an der schauerromatischen Oberfläche der Vorlage, bringen Spannung und in die Tiefe gehende Charakterisierung der Protagonisten. Einen gekonnten Kniff erlaubt sich der Regisseur, in dem er die erste Szene der Oper an den Beginn stellt, sie aber neu interpretiert. Nicht der fürchterliche Sturm (wie in Verdis OTELLO) wird hier vom Chor und von Goffredo beschrieben, sondern wir wohnen einer Trauerfeier teil, in der Mitte ein Kindersarg mit Foto und einem Spielzeug-Piratenschiff.
Die Trauergemeinde weicht vor der verstört wirkenden und am Ende der Trauerzeremonie regelrecht ausrastenden Mutter zurück – man ahnt: Schreckliches ist geschehen. Der schwarze Vorhang schliesst sich gleich einer Filmblende wieder. Erst jetzt setzt die Ouvertüre ein, wie in einem Stummfilm wird „Zehn Jahre früher“ eingeblendet, und pantomimisch dargestellt erleben wir zur Ouvertüre die Vorgeschichte, die erzwungene Heirat Imogenes mit Ernesto, die Flucht Gulatieros, die Geburt des Kindes. Beinahe atemlos verfolgt man das nun einsetzende Drama, diese fatale Dreiecksgeschichte. Denn natürlich ist man mehr als gespannt, warum diese Kindesbeerdigung am Anfang der Oper steht, ist doch im Libretto von Felice Romani nichts davon zu lesen. Doch willkürlich ist der Einfall des Regisseurs beileibe nicht, denn in der Dramenvorlage des irischen Autors Maturin (Grossonkel von Oscar Wilde) bringt Imogene tatsächlich im Wahn ihr Kind um.
Auch Goffredo ist dort ein Prior und nicht wie bei Bellini/Romani ein Einsiedler. Doch in der französischen Fassung, auf der Romanis Libretto fusst, wurden diese Elemente aus Zensur- und Schicklichkeitsgründen eliminiert, wie im Programmheft zu lesen ist. In St.Gallen mutiert diese Imogene also zu einer Art Medea, bringt ihr eigenes Kind um, nicht unbedingt aus Rache an ihrem despotischen Ehemann (und Paten der Mafia, er hat etwas von Marlon Brando in THE GODFATHER), sondern weil sie nicht will, dass sich die Spirale der Gewalt in ihrem Kind fortsetzt. Denn anlässlich eines Festes bei Ernesto (inklusive korrupten Boxkampfs mit Wetten) unterzieht Ernesto diesen Jungen dem blutigen Initiationsritual der Cosa Nostra: Er ritzt dem Jungen die Haut auf, lässt dessen Blut auf Geldscheine tropfen und entzündet diese. Am Ende der Oper befinden wir uns wieder bei der Beerdigung des Kindes vor dem Sarg. Imogene versinkt nach ihrem Ausraster in der ersten Szene nun in einen quasi entrückten Wahn, und die Worte, die sie singt, machen eben gerade im Kontext des vorangegangenen Kindsmordes Sinn, wenn sie davon singt, ihren Sohn gerettet zu haben (Il figlio è salvo) und nun vermeint, die Trompete des Jüngsten Gerichts zu hören (Del giorno finale è questo la tromba).
Dass diese finale Wahnsinnsszene dermassen unter die Haut geht, ist nicht nur Bellinis Koloraturentaumel zu verdanken, sondern vor allem der Interpretin in St.Gallen, Joyce El-Khoury. Sie porträtiert diese Imogene mit einer Eindringlichkeit sondergleichen, zeichnet das Schicksal einer Frau, zerrissen zwischen den mafiösen Charakterstrukturen ihres Gatten Ernesto und den nicht minder machohaften und cholerischen Attitüden ihres wieder aufgetauchten einstigen Geliebten Gulatiero. Stimmlich ist Joyce El-Khoury schlicht fulminant, bombensicher intonierend, bruchlos von den Tiefen zum hohen C aufschwingend, mit gleissend-metallisch klingenden Tönen ebenso auftrumpfend wie mit empfindsamen Piani, der entrückte Schlussgesang eine begeisternde Darbietung belkantistischer Finessen, schwebende, entrückte Piani, saubere Läufe und Koloraturen, ein stimmliches Fest, eine „Messe der Stimme“. Genau dieses messa di vocebeherrscht auch Arthur Espiritu mit seiner stupenden Technik in der anspruchsvollen Tenorrolle des Gualtiero. Auch er glänzt mit fantastisch sicherer Intonation, ungefährdet sowohl in den vielen Forte-Passagen, als auch in sehr schön gestalteten Piano-Phrasen.
Espiritu überzeugt mit wunderbar dynamisch abgestuftem Vortrag, herrlichen Höhen bis zum hohen D! Doch das Belcanto-Glück hat damit noch kein Ende: Auch Marco Caria als Mafiaboss Ernesto überzeugt mit seinem kernigen Bariton restlos, gibt den selbstbewussten Machtmenschen ebenfalls mit stupender musikalischer Sicherheit und vokaler Geschmeidigkeit. Szenisch und gesanglich ganz besonders erwähnenswert die Szene im Gemach Imogenes, wo der Knabe erst die lautstarke Auseinandersetzung zwischen seinen Eltern mitanhören muss (Szenen einer Ehe) und das darauffolgende Terzett, das dann im Duell (hinter der Szene) zwischen Ernesto und Gulatiero eskaliert. Stets eine sichere Bank in St.Gallen ist der hervorragende Bassist Martin Summer, der dem Goffredo gewichtiges Profil verleiht. Die Qualität einer Regiearbeit lässt sich oft auch an der Behandlung der Nebenfiguren und des Chors ablesen. Bei Ben Bauers Arbeit erhalten auch die beiden besorgten Gefährten Gualtieros (Itulbo) und Imogenes (Adele) genau gezeichnetes Profil und diese kleinen Partien werden von Riccardo Botta und Tatjana Schneider sehr klangschön interpretiert. Mit herausragender Kraft singen der präzise intonierende Chor des Theaters St.Gallen und der Opernchor St.Gallen(Einstudierung: Michael Vogel). Besonders eindringlich singt und agiert er im Finale I, wo sich das Drama in einem Zeitlupentanz des Chores und schliesslich Imogenes mit Ernesto zuspitzt und sie dann beim Abgang (wie Melania Trump …) die Hand ihres Gatten wegschubst.
Bellinis orchestrale Sprache mag nicht die differenzierteste sein, legte er doch den Schwerpunkt auf die gesangliche Melodie und deren Linie, doch Stimmungen vermochte er allemal auch aus dem Orchester heraus zu erzeugen. Diese werden vom Sinfonieorchester St.Gallen mit fein ziselierter Akkuratesse gespielt, wunderschön zum Beispiel das Englischhorn und die Flöte in der Schlussszene. Der Dirigent diese Abends, Stéphane Fromageot, kann es aber auch, wo nötig, ordentlich und effektvoll krachen lassen (Sturm), achtet jedoch auf eine ausgewogene Balance und feine solistische Zwischentöne.
Ganz besonderes Lob verdient Elhat Hoti in der stummen Rolle von Imogenes Sohn: Es ist bestimmt für ein Kind nicht ganz einfach, sich vom Vater (oder Stiefvater, denn ganz so klar ist es nicht, ob Ernesto wirklich der leibliche Vater ist …) zu blutigen Ritualen missbrauchen zu lassen und dann von der Mutter noch erdolcht zu werden!
Voll besetzt war das Theater St.Gallen an diesem Pfingstsamstagabend leider nicht – Opernfreunde des Belcanto und von intelligenten, spannenden und stimmigen Inszenierungen sei die Pilgerfahrt nach St.Gallen wärmstens empfohlen!
Kaspar Sannemann, den 19. Mai 2018