Buchkritik: „Jacques Offenbach – Ein deutsches Missverständnis“, Dieter David Scholz

Ehrenrettung für Offenbach

Zumindest partiell ein Lebens-, ganz bestimmt aber ein Liebeswerk ist Dieter David Scholz‚ dreihundert Seiten umfassendes Buch mit dem Titel Jacques Offenbach und dem eine kämpferische Auseinandersetzung vermuten lassendem Untertitel Ein deutsches Missverständnis. Nur partiell, da neben Offenbach auch andere Komponisten, so besonders Richard Wagner, den Autor beschäftigen, allerdings dem Sachsen nicht dessen Zuneigung wie dem Deutschfranzosen zuteil wird, wie nicht zuletzt die Benennung der Wagner-Nase mit „Zinken“ verrät, während das nicht unauffällige Riechorgan Offenbachs keine Erwähnung findet. Ein Text, der in anderer Form bereits in einem Wagner-Buch des Autors erschienen ist, versieht den Leser mit zusätzlichem Material zum Thema Wagner. Mit etwas Stirnrunzeln liest man, dass Wagner die Schwachen verlacht habe, Offenbach die Starken, wobei es zu lachen bei Wagner nicht viel gibt, Beckmesser als Merker und Stadtschreiber so schwach nicht ist.

Die Vielseitigkeit des vorliegenden Bandes zeigt sich darin, dass er auch ein chronologisches Verzeichnis der Werke Offenbachs, eine Übersicht über Werke zu Offenbach und eine Offenbach-Diskographie enthält.

Worin das Missverständnis der Deutschen in Bezug auf Offenbach besteht, wird sehr schnell und immer wieder klar: Es ist einmal die Bezeichnung von Offenbachs sehr unterschiedlichen Werken als Operette, während der  Komponist selbst nur einen Teil seiner Einakter mit dieser Gattungsbezeichnung versah, und  es ist zudem die Annahme, es gebe eine Entwicklungslinie, die von Offenbachs Werken direkt zur Wiener Operette führe. Erst 1950 findet man nach Scholz bei Alfred Einstein den allein zutreffenden Begriff der Opéra bouffe, und noch 2018 musste sich Peter Hawig gegen eine „Willkür von Begrifflichkeiten“ verwehren. Von Matthias Attig stammt das Bekenntnis zur „Offenbachiade“, das noch besser als alle anderen Begriffe die Einmaligkeit des offenbachschen Werks deutlich macht, das in dieser Form, voller Satire, Ironie, Freizügigkeit und Geschliffenheit, nur im Zweiten Kaiserreich entstehen und überleben konnte, nach dessen Ende mit Schrecken sich Offenbach anderen Gattungen, schließlich der Oper Hoffmanns Erzählungen, die unvollendet blieb, zuwandte.

Natürlich äußerten sich bereits Zeitgenossen zu Offenbach, so Heinrich Heine, mit dem ihm vieles, so Herkunft und Exil, verband, Rossini, der ihn als Mozart der Champs- Eliysees bezeichnete, Nietzsche und Karl Kraus, letzterer allerdings kein Zeitgenosse.

War ein verzerrtes Offenbachbild nicht zuletzt wegen dessen Judentums und infolge der im Krieg von 1870/71 gipfelnden deutsch-französischen Erbfeindschaft in Deutschland beinahe eine Selbstverständlichkeit, so kam es doch mit der Zeit zu von Abneigung oder gar Hass freien Einschätzungen, die der Verfasser in chronologischer Abfolge mit Erste Korrekturen eine verzerrten Offenbachbildes, Durchbruch zu einem sachlichen Offenbachbild und Das neue Offenbachbild betitelt. Dabei ist zu beobachten, dass zwar die Wertschätzung des Komponisten und seiner Librettisten immer mehr zunimmt, allerdings von der Nazizeit und in anderer Form auch in der DDR unterbrochen, der Begriff Operette für Offenbachs Werke aber von einer so unverständlichen wie trotzigen Langlebigkeit ist. So werden Autor für Autor oder auch Lexika einer strengen Prüfung unterworfen, für ihre Einsichten in die Bedeutung Offenbachs für die Musikgeschichte gelobt, aber zwangsläufig immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, sich des falschen Begriffs Operette für Offenbachs Werke zu bedienen. Genüsslich wird auch wiederholt darauf hingewiesen, dass die Barcarole nicht in „heimeliger Venedig-Kulisse“, sondern zunächst in Offenbachs erst in den letzten Jahren wieder öfter gespielter Oper „Die Rheinnixen“ auftauchte, und dass der rauschhafte Tanz in „Orpheus in der Unterwelt“ kein Cancan, sondern ein Galopp ist.          

Vom Autor oder von Gastautoren stammen interessante Beiträge über Offenbachgesellschaften und Offenbach-Aufführungsorte wie Wien oder Bad Ems, über das Kölner Offenbacharchiv und seine dramatische Geschichte, eine Charakterisierung der offenbachschen opéra bouffe wie der der Wiener Operette, die durchweg nicht gut davonkommt. Auch die Bühnenpraxis wird in die Betrachtungen mit einbezogen, so die Offenbachpflege an der Komischen Oper Berlin mit sehr unterschiedlich zu bewertenden Aufführungen, wobei Barrie Kosky mit den seinen, vom Publikum bejubelten, nicht gut wegkommt, da er nicht nur nach Meinung des Verfassers allzu viel Travestie in seine Inszenierungen einbaut und damit eine andere Art der Verfälschung praktiziert. Weitere Aufführungskritiken schließen das ebenso kenntnisreiche wie gut zu lesende Werk ab, das im Nachwort von Peter Hawig noch einmal Wesentliches zusammenfasst, was die offenbachsche Opéra bouffe ausmacht, die nichts ernst nimmt, was ernst genommen werden will, zugleich zeitbezogen und überzeitlich ist, Karikatur, Parodie und Persiflage zu ihren Merkmalen zählt, Partei für die Schwachen nimmt, lyrische Ruhepunkte hat, utopische Träume ernst nimmt, das lustbetonte Gute siegen lässt, Paris zum Zentrum hat und eine Musik, die für “entgrenzte Leichtigkeit“ steht, dem entzückten Ohr bietet.

Eine Bibliographie und ein Namensregister beschließen das überaus inhaltsreiche, vielseitige und inspirierende Buch, das dazu angetan ist, ein deutsches Missverständnis ein für alle Mal auszuräumen.

Ingrid Wanja, 25. August 2023


Jacques Offenbach – Ein deutsches Missverständnis
von Dieter David Scholz       

Königshausen & Neumann
Würzburg 2023
300 Seiten

ISBN 978 3 8260 7959 7