Nur knapp zwei Wochen benötigte Robert Schumann, um sein herrliches Cellokonzert zu schreiben. In einer seltenen Hochphase des depressiven Komponisten, floss ihm dieser Geniestreich leicht aus den Händen. Drei Sätze in nahtlosen Übergängen. Obschon es schwelgerisch liedhaft beginnt, so wollte Schumann einen leisen Beginn realisiert sehen
und „nicht zu schnell“. Ein Widerspruch. Denn Schumanns Metronom-Angabe gibt ein flottes Tempo vor, das selten zu hören ist. Der langsame Satz, ist ein Lied ohne Worte in geheimnisvollem Zauber getränkt. Eine kurze Atempause. Doch dann kommt der spielerische und auch leicht skurril anmutende finale Satz. Frische und Humor sind hier kennzeichnende Elemente.
Solist des Abends war Alban Gerhardt, dessen internationale Karriere ihn zu allen bekannten Orchestern in der Welt führte. Preisträger vieler Wettbewerbe, ein umfangreiches Repertoire und stets auf der Suche nach Neuem, prägen seine Biografie. So war auch sein Gastspiel in der Alten Oper Frankfurt von jeglicher Routine befreit. Staunend und
mit hohem Engagement vertiefte sich der meisterliche Solist in Schumanns Klangwelt. Alban Gerhardt ist mit Schumanns Werk hörbar vertraut. Auf seinem herrlich klingenden Gofriller Cello aus dem Jahr 1710 entlockte er sonnige Klänge voller Wärme. Er vermied in seinem Spiel jegliches Romantisieren, sondern setzte auf Natürlichkeit und aus den empfundenen Impulsen, klare Farbgebungen.
Eindringlich traf er die Lyrik des kurzen langsamen Satzes. Poesie im Wechselspiel des sensibel begleitenden Orchesters. Das Finale spielte Gerhardt mit technischer Bravour und Brillanz. Staunenswert, mit welcher Leichtigkeit Gerhardt allen Schwierigkeiten begegnete. Stets aufmerksam und freudvoll dem Orchesterspiel lauschend, gelang ihm ein perfekter Dialog.
Sebastian Weigle zeigte sich als kongenialer Begleiter. Er arbeitete schöne, entzückende Holzbläserpassagen heraus, setzte deutliche Akzente und gab dem Finale Gewicht und Kraft. Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester spielte mit hoher Flexibilität und erlesener Klangschönheit.
Das Publikum war hellauf begeistert und Alban Gerhardt bedankte sich mit einer witzigen Zugabe, die er seinem Lieblingscellisten Mstislaw Rostropowitsch widmete.
Wie sehr hat sich Gustav Mahler vor der Zahl Neun gefürchtet! Würde seine ermüdende Lebenskraft ausreichen, um eine würdige neunte Sinfonie zu schreiben? Voller Ideen und kühner Einfälle war sein kompositorischer Geist. Sein „Lied von der Erde“ war bereits seine neunte Sinfonie, doch war diese für Singstimmen und Orchester ein Sonderwerk.
Somit wurde die 1909 komponierte Sinfonie sein letztes vollendetes Werk. Die begonnene zehnte Sinfonie blieb als Torso unvollendet zurück. Mit ihr und der neunten Sinfonie, dem „Lied von der Erde“ schuf Mahler eine Trilogie des Abschiedes und der Endlichkeit, wie es kein anderer Komponist vermochte.
Bereits der erste Satz führt den Zuhörer in die vermeintlich scheidende Welt tief hinein, die Mahler so unübertrefflich zu beschwören wusste. Über das Hauptmotiv schrieb Mahler die Worte „Leb wohl“. Und wie aus dem Nichts, aus einer
anderen Welt, beginnt die Sinfonie mit einem Wechselspiel aus Cello und Harfe. Horn und Violine knüpfen mit einem intensiven Dialog an. Das Hauptmotiv wird durch alle Orchesterstimmen geführt. Gewaltige Ausbrüche, die wie seelische Aufschreie anmuten, kontrastieren mit innigen Ausdrucksmomenten, ehe dieser intensiv fordernde Satz leise verklingt.
Der zweite Satz wird oft mit einem Totentanz verglichen. Dieses verzerrte Scherzo wirkt in seinen gebrochenen Tanzrhythmen deutlich surreal. Mahler greift hier auf Walzer und Ländler parodistisch zurück. Kantable Momente werden von zahlreichen Disharmonien gebrochen, dann ist der Spuk vorbei.
Ein überragendes Beispiel seiner kontrapunktischen Fähigkeit schuf Mahler mit seinem dritten Satz, Rondo-Burleske. Schon die dissonante Einleitung in der Solo-Trompete erzeugt größte Aufmerksamkeit. In kaum einem anderen Satz seiner Sinfonien brachte Mahler derart viele Zitate und Fragmente aus seinen anderen Werken ein. Seltsam auch dann die choralartigen Momente in diesem Satz, die dem hektischen, chaotisch anmutendem Treiben Einhalt gebieten. In einer furiosen Stretta endet dieser extreme Satz.
Das finale Adagio gehört sicherlich zur ergreifendsten Musik, die Gustav Mahler schrieb. Auch hier erklingen Zitate anderer Werke, vor allem aus dem „Abschied“ aus dem „Lied von der Erde“. Ein endloser Abgesang auf das irdische Leben, der in Transzendenz mündet und am Ende verklärend die Töne aushaucht. Mahler schrieb in seine Partitur „ersterbend“. Das Kindertotenlied „Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen“ wird am Ende zitiert, ehe dann die Musik, die so sphärisch intensiv wirkt, sich auflöst. Ein ewiges, langes Ausatmen!
Sebastian Weigle, der so Vielseitige, beschäftigte sich erstmals mit Mahlers neunter Sinfonie. Und der Beginn des Werkes wurde von ihm mit einem klaren Ausrufezeichen versehen. Bereits die einleitenden, suchenden Takte zeigten, hier ertönt die Musik des Lebens und nicht des Todes! Selten ist das so eindeutig, so zupackend zu erleben! Mit klarer Vorstellung gab Weigle diesem Werk prägende Gestalt. Die Dynamik wurde überzeugend ausgereizt, vor allem in den leisen Momenten des ersten und vierten Satzes, ebenso aber auch in den fast schon schmerzhaften Ausbrüchen.
Die Höhepunkte in den Ecksätzen waren Kulminationsstellen höchster Expressivität. Grell und grotesk gelangen Weigle gekonnte artikulatorische Übertreibungen, die er sich für den zweiten und dritten Satz überlegt hatte. Kein Mahlerscher Schöngesang. Zum Glück nicht. Lebens- und Seelenklänge waren zu erleben, gefühlt und mitatmend, so dass die Zeit im Finale völlig aufgehoben wirkte.
Weigle beschwor mit seinem wunderbar mitgehenden Orchester Mahlers Leben in all dessen Brüchen herauf.
Ein sehr persönlicher Einblick, auch in die Gestaltungsfähigkeit des scheidenden GMDs. Seine Souveränität im Umgang mit den Proportionen und seine Treffsicherheit in der Offenlegung der musikalischen Strukturen, ergaben eine packende, tief bewegende und persönliche Interpretation.
Großartig, wie er das komplexe Geflecht der Orchesterstimmen auffächerte, tief in die Mittelstimmen hinein forschte. Viele neue Details konnte der Zuhörer erleben. Eine faszinierende und berührende Aufführung.
Weigle konnte sich auf sein hingebungsvoll musizierendes Frankfurter Opern- und Museumsorchester bestens verlassen. In großer Besetzung der Streicher zeigte es hier, wie auch in allen anderen Instrumentalgruppen, formidable Leistungen. Die gold tönende Gruppe der Hörner musizierte ungemein ausgewogen, edel im Klang und stets
souverän in der Intonation, besser geht es nicht. Die Holzbläser trafen ausgezeichnet den grotesken Tonfall in den Mittelsätzen, während das warm tönende Blech so manchen aggressiven Akzent beizusteuern wusste.
Differenziert und eruptiv, wenn es gefordert war, ertönte das Schlagzeug. Einmal mehr begeisterte der theatralische Ton des Frankfurter Orchesters, das mit viel Vorstellungskraft die Zuhörer tief in Mahlers Welt zu führen wusste.
Über allem stand die splendide Klangqualität des Frankfurter Top-Orchesters, das seinem scheidenden Chef mit diesem herausragenden Konzertabend sehr beschenkte. Wenn ein Orchester nach nunmehr fünfzehn Jahren für seinen GMD auf diesem Spitzenniveau im laufenden Repertoirebetrieb musiziert, dann hat Sebastian Weigle alles richtig gemacht.
Einmal mehr kann das Frankfurter Publikum dankbar für diesen großartigen Musiker sein, der so viele herausragende Abende in Frankfurt geprägt und geschenkt hat! Und gibt es ein schöneres Kompliment, wenn es nach dem Ende eines Musikstückes noch die Musik nach der Musik gibt? Die langwährende Stille!
Und so war es an diesem Abend in Frankfurt am 24. Oktober 2022. Die Zeit stand still. Erst als Sebastian Weigle seinen Taktstock auf das Notenpult legte, brandete der jubelnde Beifall auf für ein denkwürdiges, unvergessliches Konzert!
Dirk Schauß, 24. Oktober 2022
Alte Oper Frankfurt, 23. Oktober 2022
Robert Schumann: „Konzert für Violoncello und Orchester“ a-moll op. 129
Gustav Mahler: „Sinfonie Nr. 9“ D-Dur
Musikalische Leitung: Sebastian Weigle
Solist: Alban Gerhardt (Violoncello)
Frankfurter Opern- und Museumsorchester