Mit der Matinee des 3. Saisonkonzerts der Sächsischen Staatskapelle stellt sich die litauische Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla zum ersten Mal mit dem Orchester dem Dresdner Konzertpublikum vor. Am Konzertbeginn dirigierte sie die 3. Symphonie h-Moll op. 45 von Mieczysław Weinberg.
Der in Warschau als Sohn eines jüdischen Theaterkomponisten geborene Mieczysław Weinberg (1919-1996) war 1939 vor der deutschen Invasion Polens zunächst nach Minsk geflohen. Nach dem Überfall der deutschen Armee auf die UdSSR im Jahre 1941 und der Besetzung der Westgebiete ging er nach Taschkent. Als Weinberg 1943 seine 1. Symphonie Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) zur Begutachtung geschickt hatte, veranlasste dieser seine Übersiedlung nach Moskau und verschaffte ihm Unterkunft in seiner Nähe. Als Fast-Nachbarn trafen sie sich häufig, um über musikalische Ideen zu sprechen und dabei gegenseitig das Geschaffene als gelungen abzusegnen. Das hatte zwar durchaus gegenseitige Auswirkungen auf ihre Kompositionen zur Folge, Weinberg deshalb als den „kleinen Schostakowitsch“ zu bezeichnen wäre aber grundfalsch. Beide waren durchaus eigenständige Komponisten: die kompositorische Leichtigkeit, stilistische Zuspitzung und deren Vollendung auf der einen Seite und die hörbar mühevolle Arbeit, das Ringen um die beste gestalterische Lösung, das oft nicht bis zum Ende Gebrachte, auf der anderen Seite, unterschieden die Komponisten. Die Genialität, die in scheinbar banalen Stücken durchscheint, war Beiden zu Eigen.
Es wäre nicht richtig, Mieczyslaw Weinberg als moralische Institution oder Feind des Sowjetsystems zu bezeichnen. Er war weder Kommunist noch Antikommunist, sondern allenfalls Antifaschist. Immerhin musste er zweimal vor den Faschisten fliehen, Deutsche hatten seine übrige Familie ausgelöscht und er verdankte dem Gastland, dass er überleben konnte. Er selbst bezeichnete die 1960-er Jahre als seine „Goldene Ära“. Er hatte sich als einer der wichtigsten sowjetischen Komponisten etabliert. Nach Schostakowitschs Tod verließ er kaum noch seine Wohnung und kümmerte sich nicht um die Aufführungen seiner Kompositionen. Damit wurden die Werke des bescheidenen und etwas lebensuntüchtigen Weinbergs immer weniger gespielt und er verschwand aus dem Musikleben. In Westeuropa passte er nicht in die Schubladen der Avantgarde, galt als Schostakowitsch-Epigone und Systemkonform. Die westeuropäische Kulturpolitik belegte nahezu alle nicht eindeutig „dissidenten“ Musiker der Sowjetunion mit einem Bannfluch. Nach dem Zerfall der UdSSR waren im Musikleben Debütanten wie Schnittke und Gubaidulina gefragt. Erst kurz vor seinem 100-sten Geburtstag wurde Weinbergs Oper „Die Passagierin“ in Bregenz aufgeführt und einige seiner etwa 300 Kompositionen ausgegraben.
Zuversichtliche Empfindungen, fragile Beziehungsgeflechte , die von hoffnungsvollen Gefühlen initiiert zu sein scheinen, findet man bei Weinberg wie so oft auch in seiner farbenreichen Symphonie Nr. 3 in h-moll op. 45. Das 1949/50 komponierte, vom damals tonangebenden Komponisten und Kulturpolitiker Tichon Chrennikow (1913-2007) als formalistisch verteufelte Werk, war 1959 revidiert worden. Deshalb können wir nicht mehr einordnen, ob die lyrisch verträumten Melodien und bebenden Klänge erst der Überarbeitung entstammen. Die Instrumentierung sei aber mit der Überarbeitung transparenter und ökonomischer geworden. Ein eigener, optimistischer Ton ist zu hören. Ob dies seinem Lebensgefühl entsprach oder den Forderungen nach Sozialistischem Realismus entgegen kam, ist schwer zu beurteilen. Wie Schostakowitsch bewegte sich Weinberg in dem verhängnisvollen Dreieck von großzügiger staatlicher Alimentierung, künstlerischer Anerkennung seiner Arbeiten und persönlicher Repression durch die offizielle Kulturpolitik.
Das gut halbstündige Werk hat vier Sätze, von denen das Dirigat des Kopfsatzes Mirga Gražinytė-Tylas auf Anhieb beeindruckte. Die an epische Filmmusik erinnernden Kontraste arbeite die Dirigentin besonders filigran heraus. Sie ließ das Orchester zunächst überbordend schwelgen und mystisch leuchten, so dass man nicht sicher war, ob die Musik einem Märchen oder einem Albtraum entstammte. Neckisch tänzelten die Musiker danach durch das von volkstümlichen Melodien geprägte Allegro giocoso, bevor insbesondere die Streicher mit lyrischer Poesie und warmen Klang die melodischen Steigerungen und Weiten des Adagios berückend schön interpretierten. Da war tatsächlich jede Note zu hören. Im finalen Satz hielt die Dirigentin das Orchester in straffen Tempi und zu kontinuierlich steigernder Dynamik an, wodurch das vom Komponisten überzeichnete, sarkastische Element der Musik besonders gut zur Geltung kam. Begeisterte und langanhaltende Ovationen feiertenMirga Gražinytė-Tyla und das Orchester.
Rudolf Buchbinder ist seit vielen Jahren insbesondere mit seinen Beethoven-Interpretationen ein gern gehörter Gast in den Symphoniekonzerten der Staatskapelle. Im Konzert spielte er das als Klavierkonzert Nr. 1 C-Dur eingestufte Opus 15, diesmal mit Unterstützung und ohne sein vertrautes Dirigat vom Klavier aus. Die Sächsische Staatskapelle unter Gražinytė-Tyla war bei der Aufführung buchstäblich vom ersten Takt an voll bei der Sache. Gleich die eröffnenden leisen Akkorde hört man so subtil artikuliert selten. Buchbinders Interpretation verzichtete auf alles Spektakuläre. Die Überlegenheit seines Spiels, die Perfektion, Tonschönheit und musikalische Intensität überzeugten, als er einen klassisch notentreuen Beethoven spielte, ohne sich durch Extravaganzen in Tempo und Phrasierung interessant zu machen.
Eine Besonderheit der Darbietung war, dass Buchbinder am Ende des ersten Satzes „seine Kadenz-Fassung“ spielte. Beethoven hatte bekanntlich seinen Aufführungen die Kadenzen improvisiert und diese erst später aufgeschrieben. Von dieser Kadenz sind drei Fassungen überliefert: eine fragmentarische, die nach 60 Takten abbricht, dann eine kurze und schließlich eine genauer ausgearbeitete längere. Auf der Suche nach einer für ihn gültigen Fassung, hat sich Buchbinder zu einer Synthese aus den fragmentarischen sowie einzelnen Takten der beiden anderen Kadenzen, entschlossen und diese beeindruckend geboten.
Die Sächsische Staatskapelle begleitete klangvoll. Besetzungsbedingt wirkten die Streicher leicht überproportioniert und damit etwas breit. Am schönsten finden Buchbinder und Gražinytė-Tyla im andächtigen Largo-Mittelsatz zusammen. Die richtigen Tempogestaltung besonders des Largo nahm Buchbinder sehr genau und vermied, dass der Satz zu langsam gespielt wurde. Ein sehr kommunikatives atemberaubend ausdifferenziertes Dirigat war das Ergebnis. Im Rondo zeigte vor allem Rudolf Buchbinder seine Freude am Musizieren.
Zum Abschluss des Konzertes dirigierte Mirga Gražinytė-Tyla die „Fantasia on a Theme by Thomas Tallis“ von Ralph Vaughan Williams (1872-1958), ein ursprünglich für drei abgestufte Streicherformationen komponiertes Werk. Der katholische Kirchenkomponist Thomas Tallis (um 1505-1585) war in die Wirren der englischen Reformation geraten. Um weiter an der Entwicklung seiner Chormusik arbeiten zu können, blieb er aber der Motette treu und implantierte diese in den anglikanischen Gottesdienst. Anlässlich des 40. Geburtstags der Königin Elisabeth I., Tochter Heinrichs des VIII. und Anne Boleyns, vertonte er im Jahre 1573 den 2. Psalm aus „Tunes for Archbishop Parker´s Psalter“. Der Überlieferung nach hatte Tallis acht Chöre mit jeweils fünf Stimmen an unterschiedlichsten Positionen im Kirchenraum platziert und, so nach Zeitzeugnissen, phantastische Klangeffekte erzielt.
Der in seinen jüngeren Jahren nur mäßig erfolgreiche Komponist Ralph Vaughan Williams betätigte sich um die Jahrhundertwende zugleich als Herausgeber der Neuauflage des Kirchengesangbuchs „The English Hymnal“. Dabei blieb er an Tallis Melodie aus dem 16. Jahrhundert „When rising from the bed of death“ hängen und versuchte das Thema in einer zahmen Bühnenmusik unterzubringen. Aber erst, als er der Tonfolge in der „Fantasia“ neben dem besinnlich-ruhigen Charakter dramatische und leidenschaftliche Momente verschaffte, indem er zwei in der Größe abgestufte Streichorchester sowie ein Soloquartett gegeneinander antreten ließ, erreichte er die gewünschte Wirkung.
Der Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla gelang es tatsächlich, reizvolle Effekte des Dialogs zwischen dem Streichorchester und dem erhöht angeordnetem Kammerorchester zu schaffen. Nach einer von den tiefen Streichern gezupften Einleitung entfaltete sich der vierstimmige Satz Tallis´ zu weiten und klangvollen Akkorden. Machtvolle Kadenzen und echoartiger Wechselgesang zwischen den Streicherformationen, dazu Kontraste mit Solo-Violine bzw. -Viola faszinierten in ihrer Verdichtung. Mehrfach erinnerten die beiden Streichorchester an das Ursprungsthema, während Streichergruppen mit ungebundenem Rhythmus ihre Klänge fließen ließen. Das war hervorragend gespielt, Die Dichte der Komposition erschloss sich mit Gražinytė-Tylas Interpretation dem Hörer durchaus, aber die trockene Klangentfaltung in der Semperoper ließ gegenüber einer Darbietung in einer Kathedrale Wünsche offen.
Damit hatte die Matinee letztendlich ein Reihenfolge-Problem, was sich auch im abgestuften Beifall des Vormittagspublikums ausdrückte.
Für Mirga Gražinytė-Tyla war das Orchesterdebüt ein schöner Erfolg, so dass der Wunsch auf baldige weitere Gastdirigate der litauischen Musikerin bleibt.
Für uns bleibt die Hoffnung, so wie wir noch immer auf eine Wiederholung des „Liebesmahls der Apostel“ aus dem Geburtstags-Konzert für Richard Wagner von 2013 in der Frauenkirche warten, dass die weniger aufwendige Darbietung der „Fantasia on a Theme by Thomas Tallis“ des Ralph Vaughan Williams daselbst, dann auch mit einem abgesetzten Streichquartett, zu hören ist.
Thomas Thielemann 20. November 2023
Semperoper Dresden
Matinee des 3. Symphoniekonzerts
am 19. November 2023
Mieczyław Weinberg: Symphonie Nr. 3 h-moll op. 45
Ludwig van Beethoven : Klavierkonzert Nr. 1 C-Dur op. 15
Ralph Vaughan Williams: Fantasie on a Theme by Thomas Tallis
Dirigentin: Mirga Gražinytė-Tyla
Solist : Rudolf Buchbinder
Sächsische Staatskapelle Dresden