Berlin: „Lucia di Lammermoor“, Gaetano Donizetti

Hört oder liest man von einer zwar nicht Lucia , aber doch Lucie of Lammermoor und ausgerechnet von den Donizetti-Festspielen aus Bergamo mit Autowracks und Massenvergewaltigung, dann schaut man um so dankbarer auf den schönen Vorhang in der Deutschen Oper Berlin, auf den der inzwischen bereits vor einem Vierteljahrhundert verstorbene Filippo Sanjust einst eine durch den schottischen Nebel wandelnde zarte Mädchengestalt zauberte. Viele großartige Soprane haben in dieser Produktion aus dem Jahre 1980 mal zur Begleitung der Flöte, aber auch einer Glasharmonika ihre Wahnsinnsarie gesungen, wurden hermetisch gefeiert, und man fragt sich, wie sie sich in einer Produktion fühlen würden, in der Ukrainekrieg und Nahostkonflikt eher ihre Spuren hinterlassen zu haben scheinen als Walter Scotts romantischer Schauerroman. Edita Gruberova, die die Premiere sang, kann nicht mehr befragt werden, auch nicht Christina Deutekom, die ein kurzes Gastspiel absolvierte, wohl aber Lucia Aliberti, die hier ihre größten Triumphe überhaupt feierte, in der Rolle auch dann blieb, wenn sie hoheitsvoll zur Entgegennahme nicht enden wollenden Applauses vor den Vorhang schritt. Erinnerungswürdige Lucien waren auch Elena Mosuc, Nelly Miricioiu und Stefania Bonfadelli, und wohl sicher sein kann man sich, dass der aristokratischste aller Edgardos, Alfredo Kraus, im Bergamo von 2023 nicht aufgetreten wäre.Freuen wir uns also darüber, dass die „altmodische“ Produktion mit ihren Kulissen aus bemalter Pappe, mit den allerdings inzwischen bescheidener gewordenen güldenen Gefäßen zur Hochzeitsfeier immer wieder auf dem Spielplan erscheint, und im Februar sogar die ebenfalls von Sanjust stammende der Gioconda in Kulissen der Entstehungszeit. Als langlebig erweist sich auch seine Ausstattung von Tosca, die bereits seit 1969 auf dem Spielplan steht.

© Bettina Stöß

In der inzwischen 150. Vorstellung seit der Premiere wurde allerdings auch deutlich, dass nur Sänger mit einer bezwingenden Wirkung auf das Publikum diese zudem noch optisch entkernte Produktion mit Leben und die Zuschauer mit Begeisterung erfüllen können, dass eine schöne Stimme, eine Technik ohne Fehl und Tadel, eine sichere Höhe und ein angenehmes, anrührendes Spiel nicht ausreichen, um den Funken überspringen zu lassen. Es bedarf weder eines Brautschleiers zu neckisch-irrem Spiel, noch weißer Blüten, noch eines Messers, mit denen Lucia neuerdings hantiert, noch des mehrmaligen übermütigen Körperkontakts in der zweiten Szene, um die Zuschauer zu fesseln, sondern es bedarf der Ausstrahlung einer Primadonna, die die junge Tatarin Aigul Khismatullina einfach (noch) nicht hat, die nichts falsch machte, einen schönen Erfolg verbuchen konnte, aber das Publikum nicht in das Delirium versetzte, das man in diesem Haus und diesem Repertoirestück schon oft erlebt hat.

© Bettina Stöß

Ein Operalia-Wettbewerbsgewinner ist der rumänische Tenor Ioan Hotea, der einen höchst engagierten Edgardo gab, eine für Donizetti und generell den Belcanto geeignete Stimme eines tenore di grazia und ein leidenschaftliches Spiel so einsetzen konnte, dass die letzte Szene nicht wie ein Anhängsel nach der Wahnsinnsszene, sondern wie ein echter Höhe- und Schlusspunkt wirkte. Besorgnis erregte im ersten Bild der Enrico von Michael Bachtadze durch ein recht angestrengt wirkendes Singen, konnte danach aber zwar nicht seine Schwester Lucia, wohl aber den Hörer durchaus überzeugen, nicht zuletzt wegen der Beachtung auch der kleinen Notenwerte. Wegen der schönen Bassstimme von Gerard Farreras bedauerte man, dass die Arie des Raimondo gestrichen war, eingesprungen als Arturo war Ya-Chung Huang , der sich im Sextett bewähren konnte, eine wahre, die Lucia in den akustischen wie optischen Schatten stellende Luxusbesetzung als Alisa gab Irene Roberts und Jörg Schörner war einmal mehr Normanno. Mit energischem Taktschlag breitete Carlo Montanaro den Klangteppich unter den Sängerstimmen aus. Ein Sonderlob gebührt der Harfenistin Virginie Gout-Zschäbitz und dem Flötisten Eric Kirchhoff.

© Bettina Stöß

Maria Callas, die heute hundert Jahre alt geworden wäre, hat augenblicklich wohl keine Nachfolgerin im Belcanto-Fach.

Ingrid Wanja 2. Dezember 2023


Lucia di Lammermoor
Gaetano Donizetti

Deutsche Oper Berlin

Besuchte 150. Vorstellung am 1. Dezember 2023
nach der Premiere am 15. Dezember 1980

Inszenierung: Filippo Sanjust
Musikalische Leitung: Carlo Montanaro
Orchester der Deutschen Oper Berlin