Nicht, dass eine gute Musikerin auf einem guten Cembalo nicht einen Ausdruck gleichsam hinkriegen würde, den eine sehr gute Interpretin auf einem modernen Konzertflügel verwirklichen kann, wenn sie Bach spielt – aber vielleicht klingt der Clavier-Bach auf einem modernen Instrument wirklich am besten. Mag sein, dass auch dies, wie alles in der Kunst, eine Geschmacksfrage ist, die selbst die „Kenner“ des 18. Jahrhunderts schon getrennt hat: hier die Freunde alter Tasteninstrumente, dort die afficionados des modernsten Typs des Hammerklaviers.
Gesa Lücke ist jedenfalls eine sehr gute Musikerin. Ein Programm mit einem Bach-Werk zu beginnen, in diesem Fall Fantasie und Fuge BWV 904, ist so einfach wie sinnig. Mit Bach wird der Hörer sofort in eine andere Welt entführt – gleich, ob die Interpretin eher „Leipziger Schule“ oder neuromantisch anmutet, indem die Spielerin ihre Akzente, Bögen, Betonungen und Lyrismen als Eigenes aus dem Stück holt, dessen Noten zwar keine Vortragsbezeichnungen, aber quasi interne Deutungsvorschläge enthält. Wunderbar also, wie die Kölner Klavier-Professorin den Bach im besten Sinne professoral bringt. „Im besten Sinn“: das kann auch über einzelne der Stücke gesagt werden, die Gesa Lücker ausgegraben hat. Mit Luise Adolpha Le Beau, einer Frau aus Rastatt, über die man sich nicht allein in einem Wikipedia-Artikel, sondern auch in ihren Memoiren informieren kann, mit der 1850 bis 1927 lebenden Komponistin also betritt man zumindest teilweise das Gebiet der Salonmusik; der zweite Satz ihrer 1878 gedruckten a-Moll-Sonate op. 8 ist Salonmusik in bestem Sinne. Chopins Musik gehört ja auch zu großen Teilen dem Salon, der Walzer der Sonate, also das Scherzo, ist anverwandelter Chopin reinsten Wassers, bevor der Wirbel des Allegretto vivo zu Schubert hinüber grüßt. Klingt der Kopfsatz mit seinem markanten Hauptthema auch ein wenig nach Schumann (bei dessen Witwe, die den leidenschaftlichen Stil der Schülerin nicht mochte, Le Beau Unterricht nahm), so offenbart sich doch durch Gesa Lückers Interpretation eine starke Hand. Lücker betont, wo es geht, aber sie übertreibt nicht. Ohne Kenntnis der Noten kann man nur sagen resp. schreiben: Sie spielt den kompositorischen Anspruch, den die Le Beau an sich selbst stellte, mit Verve und jenen Differenzierungen heraus, die aus dem Konzert einen reinen Hörgenuss machen.
Bach mit Le Beau unmittelbar zu konfrontieren ist keine schlechte Idee. Die Gavotte op. 32, die Clara Schumann in Le Beaus Auffassung „zu romantisch“ war, passt so gut zu Bachs Gavotte aus der 6. Englischen Suite BWV 811, dass man meinen könnte, Le Beau habe unmittelbar auf Bachs Meisterstück reagiert (und vielleicht hat sie’s ja). Mit dem späten (und bislang nicht eingespielten) Stück Im Walde op. 63, komponiert 1924, zeigt Lücker eine zwar konservative Komponistin am Werk, doch auch den immensen Einfluss, den Debussys Stil selbst auf Musikerinnen hatte, die immer noch mehr bei Schumann als bei Schönberg zuhause waren. Schließlich eine letzte Konfrontation: Im Walde stößt mit seinem Schumann-Anklang an Vogel als Prophet auf Schumanns Waldszenen op. 82. Lücker „kann“ das alles: das Robuste und das Zart-Lyrische, das Auftrumpfende und das Verhallende (wie die Einsamen Blumen ausklingen, hat schon Klasse). Sie zeigt auch, dass wir jedes der 9 Stücke selbst dann begreifen würden, wenn uns nicht die Titel zur Verfügung stünden, ja: bisweilen scheint es, als habe Schumann auch hier die den literarischen Vorlagen abgewonnenen Überschriften erst nach der Komposition den Sätzen aufgepresst, wie er es gelegentlich tat. Wenn der Jäger auf der Lauer einen Höllenlärm macht und die freundliche Landschaft bewegt vor sich hin schwirrt, benötigt der Hörer keine tonmalerischen Anweisungen, sondern eine Interpretation von Stimmungsbildern, die, nicht alleim im berühmten und harmonisch relativ ungewöhnlich dissonanten Vogel als Prophet, nuanciert, kurzweilig und kontrastreich sind: ganz so wie bei Gesa Lücker, die eines jener Konzerte gespielt hat, die vom ersten bis letzten Takt größte Freude machen. Das Encore der 13. Ungarischen Rhapsodie Franz Liszts gab dann das I-Tüpfelchen, aber schon vorher hatte wir erfahren, dass sich Poesie und Virtuosität, also das Lisztsche Grundprogramm, absolut nicht ausschließen.
Frank Piontek, 13. Dezember 2023
Hochschule für evangelische Kirchenmusik
229. Akademiekonzert
Bayreuth
Gesa Lücker – Klavier
Bach, Le Beau, Schumann, Liszt