Paris: „Fantasio“, Jacques Offenbach

© Stefan Brion

Auch bei Offenbach gibt es noch Überraschungen. So wie diese vergessene romantische Oper, ein Vorläufer von „Hoffmanns Erzählungen“, die 1872 bei der Uraufführung durchfiel und erst jetzt, fast 152 Jahre später, wieder an die Opera Comique zurückkehrt. Warum die Premiere am 18. Januar 1872 ein Fiasko war, ist eine lange Geschichte, die nichts mit Musik, sondern nur mit Politik zu tun hat. Nach kaum 10 wenig besuchten Vorstellungen und einer überaus hämischen Presse (wozu gleich mehr), wurde „Fantasio oder der Narr des Königs“ ab dem 21. Februar 1872 auf Deutsch am Theater an der Wien gespielt. Doch trotz einer viel beklatschten Marie Greisinger (bald danach die erste Rosalinde der „Fledermaus“), konnte sich das Werk auch hier nicht durchsetzen, wurde im Oktober noch ohne sonderlichen Erfolg in Graz, Prag und Berlin nachgespielt und verschwand dann völlig in der Versenkung. Offenbach, der mit einem riesigen Kraftaufwand versuchte, mit seinen früheren Erfolgen anzuknüpfen, warf die Partitur weg, die nicht einmal gedruckt wurde. Das handgeschriebene Manuskript, „vergessen“ in einer Truhe von Offenbachs Tochter Jacqueline, wurde durch ihre Erben in 16 Stücke (!) geschnitten, die in aller Herren Länder verkauft wurden. So brauchte der Offenbach-Spezialist Jean-Christophe Keck über 20 Jahre, um die Original-Partitur zu rekonstruieren, bis 2014 „Fantasio“ bei Opera Rara erschien (die bis jetzt einzige Einspielung), worauf eine szenische Fassung in Karlsruhe folgte (auf Deutsch). Die ursprüngliche Pariser Fassung kam erst 2017 auf die Bühne in einer Produktion der Opéra Comique, doch damals in einer Ausweich-Spielstätte, wo wir sie nicht haben rezensieren können. Es ist die jetzige Produktion, die nach einer Pandemie-Pause und einem Umweg über Rouen, Montpellier, Genève und Zagreb nun endlich – wie schon seit vielen Jahren geplant – an den Ort der Uraufführung zurückkehrt. Ein vergnüglicher Abend und, vorerst einmal, ein wunderbares Werk.   

© Stefan Brion

Die Vorlage ist fantastisch im wahrsten Sinne des Wortes: denn der ursprüngliche Titel des Theaterstücks „Fantasio“ (1834) von Alfred de Musset war „Phantasio“, vom deutschen phantasieren (wovon das französische „fantasmer“ nur eine schwache Übersetzung ist). Musset liebte die fantastischen Erzählungen von E.T.A Hoffmann, in diesem Fall ganz besonders „Die Lebens-Ansichten des Katers Murr“ (1821). Die Hauptfigur Fantasio ist gleichzeitig auch ein Selbstbildnis des fulminanten Musset, der mit 23 Jahren seine wichtigsten Theaterstücke schon geschrieben hatte und nun „lebensmüde“ wurde. Die Rettung kam von einer Frau und nicht von Irgendeiner: als „Fantasio“ im Januar 1834 erschien, hatte George Sand den schon kranken und verschuldeten Alfred nach Venedig „entführt“, wo ihre hochleidenschaftliche Liebesgeschichte in die Literaturgeschichte ging, da beide ihre Liebesbriefe veröffentlicht haben. Musset benutzte sie Wort für Wort in seinen nächsten Theaterstücken und Sand hat damit ein ganzes Buch gefüllt. Beide schrieben quasi Tag und Nacht (mindestens vier Bücher pro Jahr!) und Alfred bediente sich heimlich in ihren Manuskripten – weswegen es in „Fantasio“ auch eine paar feministische Anklänge gibt aus Sands Frauen-Romanen. Und wenige Monate nach dem Erscheinen von „Fantasio“ übernahm auch noch Georg Büchner schon ganze Textstellen in „Leonce und Lena“. Das ist alles so gut wie unbekannt, denn genau wie Büchners Lustspiel erst 60 Jahre später auf die Bühne kam (1895!), wurden die meisten Theaterstücke von Musset ebenfalls erst nach seinem Tod uraufgeführt. Denn nachdem sein allererstes Stück in Paris mitten in der „romantischen Revolution“ von 1830 ausgebuht worden war, wollte Musset nichts mehr mit der ganzen „Menagerie des Theaters“ (so wie er sich ausdrückte) zu tun haben und schrieb nur noch Theaterstücke „pour le fauteuil“ – die man im Sessel lesen kann und wo der Autor seiner Fantasie einen freien Lauf lassen kann ohne darüber nachdenken zu müssen, wie man dies nun szenisch umsetzt.

Gefundenes Fressen für Jacques Offenbach, der in „Fantasio“ viele seiner Lebensthemen wiederfand: das Hadern mit der materiellen Welt (Offenbach, Musset und Fantasio sind/waren chronisch hochverschuldet) und ein Ausbrechen aus dieser, wie in den fantastischen Erzählungen von E.T.A Hoffmann. Offenbach war Musset vor seinem frühen Tod begegnet als einfacher Orchestermusiker in der Comédie Française, wo er für dessen Theaterstück „Le Chandelier“ eine „chanson de Fortunio“ komponierte, die er viele Jahre später, 1861, zu einer kleinen opéra-comique aufgebauscht hat. Offenbachs Lebenswunsch war ein Erfolg an der angesehenen Opéra Comique, den er jedoch erst posthum mit „Les Contes d’Hoffmann“ (1881) haben würde. Nachdem „Barkouf“ (1860) und „Robinson Crusoé“ (1867) komplett durchgefallen waren und „Vert-Vert“ (1869) nur einen Achtungserfolg erzielte, einigte er sich mit der Direktion auf „Fantasio“. Denn Musset war nach seinem Tode quasi ein National-Dichter geworden, also eine Garantie für ein ernsthaftes Werk. Mit Hilfe von dessen Bruder Paul Musset wurde ein Libretto erstellt, worin man auch ein paar bekannte Gedichte einfließen ließ, so wie die wunderschöne „Ballade à la lune“: „la lune comme un point sur un i“. Offenbach war ganz in seinem Element: die opéra-comique (also mit gesprochenen Dialogen direkt aus dem Stück von Musset) fängt an in einem Bierkeller in München, wo trinkende Studenten von einem anderen Leben träumen (wie in „Hoffmanns Erzählungen“) und es dann ordentlich viel Aktion gibt. Die Musik hat einerseits Schwung, Humor, Ironie und einen „Galopp“ und andererseits auch Romantisches, schon fast etwas Resignatives, das schon in der sanften, solistisch gehaltenen Ouvertüre anklingt. Die großen Arien der beiden Hauptprotagonisten Fantasio (eine Mezzo-Hosenrolle) und Prinzessin Elsbeth (Sopran) kündigen schon den Venedig-Akt der „Contes d’Hoffmann“ an und die gerade wieder-entdeckte opéra-féerie „Le voyage dans la lune“ (1875). Mussets poetisches offenes Ende wurde im Libretto umgeschrieben, weil die Opéra Comique nur Liebesgeschichten mit einem Happy End wollte (siehe unsere Rezension von „Hamlet“ von Ambroise Thomas). Der Narr des Königs, der wegen einer „Majestätsbeleidigung“ des fiesen Verlobten der Prinzessin (den sie absolut nicht heiraten will) im Kerker landet – womit das Theaterstück endet – wird im Libretto befreit und geadelt, womit eine mögliche Heirat mit der Prinzessin im Raum steht (denn niemand liebt sie so wie er). Fantasio, ursprünglich für einen Tenor angedacht, wurde für einen Mezzo runtertransponiert, womit diese unstandesgemäße Liebesgeschichte auch nicht zu konkret wurde (was vielleicht Anstoß geben könnte). Für die Titelrolle engagierte man die sehr beliebte Célistine Galli-Marié, wenig später die erste Carmen. Also diese Oper konnte nur ein „Bombenerfolg“ werden. Doch kurz vor der geplanten Premiere schlugen echte Bomben in Paris ein und mit dem deutsch-französischen Krieg (1870/71) wurde plötzlich alles ganz anders…   

© Stefan Brion

Als im Herbst 1871 die Theater in Paris wieder öffnen konnten, waren Stadt und Land sehr tief traumatisiert – was man daran sieht, dass der Grund weswegen Frankreich (spricht die Kaiserin, gegen die sich ihr eigener Mann sogar nicht mehr durchsetzen konnte) den Krieg erklärte, wie Operettenhaft er durchgeführt und verloren wurde und was für riesige Schäden dabei entstanden (nicht nur der Königspalast und das Rathaus in Paris mit allen Archiven der Stadt gingen in der „Commune“ verloren) bis heute (!) ein Tabu-Thema in Frankreich sind. Offenbach änderte daraufhin den Schluss: der durch den Narren beleidigte Verlobte/Prinz von Mantua kündigt an, dass er bald mit seinen Truppen zurückkehren wird, was durch alle bejubelt wird. Auch das Volk will Krieg und ruft: „La guerre, la guerre“. Worauf Fantasio fragt: „Wollt Ihr den Krieg“ – „Oui, oui“ – „Und warum?“ (Pourquoi?) – Betretenes Schweigen… Fantasio: „Ja, wenn die Könige den Krieg wollen, können sie ihn doch unter sich führen“ und er fordert keck den Ex-Verlobten der Prinzessin zum Duell auf. Doch dieser, der kurz zuvor noch mit seiner Armee geprahlt hat, ist ein Angsthase und erklärt dann lieber schnell den Frieden. Fantasio wird geadelt zum Grafen in Mantua, Prinz in Bayern und zum „König der Narren“. Dieses schöne Ende war jedoch in der damaligen Lage recht ungeschickt. Denn Offenbachs Figuren haben den großen Reiz, dass niemand sich selbst in ihnen erkennt – aber jeder seinen Nachbarn! Doch dafür war diese gut gemeinte Szene – Offenbach war Pazifist und hatte sehr unter diesem Krieg seiner beiden Heimatländer gelitten – zu konkret, denn quasi jeder im Publikum hatte kaum zwei Jahre zuvor selbst noch freudig „La guerre“ gerufen – und wollte nur nicht daran erinnert werden… So wurde dieses Finale nicht nur „Fantasio“, sondern auch Offenbach selbst zum Verhängnis. Denn obwohl er inzwischen ein angesehener Franzose mit Ehrenlegion und seit 30 Jahren zum Katholizismus konvertiert war, wurde er nun in hämischen Artikeln daran erinnert, dass er als ein Jude in Köln geboren war – also im arroganten Preußen, das gerade im Friedensvertrag von Frankfurt Frankreich so erniedrigt hatte. Alsob der Sieger dem Besiegten fragt, warum er diesen dummen Krieg erklärt hat. Die Kritiken nach der Premiere waren so furchtbar negativ, so persönlich verletzend und aus heutiger Sicht so beschämend, dass man sie gar nicht zitieren will. (Sie wurden im Programmheft abgedruckt, die anderen historischen Informationen und die Sichtweise dazu sind natürlich von mir.) Offenbach wurde sogar unterstellt, dass eine Klausel des Friedensvertrages es ihm nun erlaube, als Deutscher den französischen „National-Autor“ (Musset hätte sich sehr gewundert!) zu verhunzen. Ab dann würde in den patriotischen Kreisen in Paris an Offenbach ein Makel kleben, dass er trotz aller seiner Bemühungen bis zu seinem Tode 1880 nicht mehr loswerden konnte. Dies erklärt, warum er „Fantasio“ danach so schnell wie möglich vergessen wollte. Schade, denn das Werk ist wunderbar – und in seiner Thematik erstaunlich aktuell.

© Stefan Brion

Nur Komplimente für den Regisseur Thomas Jolly und sein Team. Denn ihnen ist der nicht immer leichte Balanceakt zwischen Komik und Romantik gelungen. Ohne das Werk zu verharmlosen, denn in der Eröffnungs-Szene werden Plakate mit „Krieg“ – der gerade gegen den Nachbarstaat (sic) droht – mit „Frieden“ überklebt, weil die Bayerische Prinzessin Elsbeth nun den Prinzen von Mantua heiraten wird. Ein Plakat ist genug, dazu braucht man nicht aktuelle Videos, so wie man sie in letzter Zeit recht viel auf den Opernbühnen sieht. Der junge und sympathische Jolly (gerade 40), ursprünglich Schauspieler und Theaterregisseur, von dem wir schon „Macbeth Underworld“ 2019 an der Monnaie in Brüssel und im Juni „Roméo et Juliette“ an der Pariser Oper positiv rezensiert haben, beherrscht das alte Theaterhandwerk. Er hat ein sicheres Händchen für die Mechanismen der Komödie, für Situationskomik, für Brechungen und für die heiklen Übergänge zwischen Witz und Ernsthaftigkeit, Ironie und Wahrhaftigkeit. Auf der einfachen Bühne von Thibaut Fack werden Elemente rein- und rausgefahren, durch Techniker, die entsprechend angezogen sind (sehr lustige Kostüme von Sylvette Dequest). Mehr ist nicht nötig. In den großen Arien genügt als einzige „Bewegung“ die atmosphärische Beleuchtung von Antoine Travert und bekommt die Musik allen Raum. Laurent Campellone zeigt sein Fingerspitzengefühl, das wir bei seinen Dirigaten von Massenets Opern schon so oft gelobt haben. Alles bleibt leicht und luftig, nicht nur im obligatem „Galop“ am Ende des zweiten Aktes (der sonst vulgär klingen kann), sondern auch in den parodistisch getönten Marsch-Anklängen und den melancholischen Einwürfen von Bläsern und Celli (Offenbach war ja ursprünglich Cellist!). Das Orchestre de chambre de Paris und der Chor Ensemble Aedes, quasi das Hausensemble der Opéra Comique, folgen jeder Nuance.

Gaëlle Arquez – vor Kurzem auf der gleichen Bühne noch eine sehr gelobte Carmen – ist ein fantastischer Fantasio: ausnahmsweise ein ganz besonderes Lob für die vielen gesprochenen Texte, bei denen bei so manchen Sängern die Spannung fällt (oder wurde sie durch eine Schauspielerin gedoubelt?). Wunderbar die beiden großen Duos mit Jodie Devos (Prinzessin Elsbeth), die man bei Offenbach-Fans nicht mehr vorzustellen braucht, seitdem ihre CD „Offenbach Colorature“ (auch mit Campellone) alle erdenklichen Plattenpreise bekommen hat. Unter ihren komischen Perücken erkannten wir Franck Leguérinel als (auch hoch verschuldeter) König von Bayern, der „das Wertvollste was er besitzt“, seine Tochter, aus politischen Gründen an einen Mann verheiraten muss, den er nicht kennt und dem er nicht traut: dem Prinzen von Mantua (Jean-Sébastien Bou). Beide sind Stammgäste der Opéra Comique und mit dem Rollentypus „alter König“ und „junger Prinz“ bestens vertraut. Das gilt auch für ihre Adjutanten François Rougier (Marioni) und Bruno Bayeux (Rutten und auch noch ein absolut urkomischer Schneider, „le tailleur“), sowie Anna Reinhold, als Flamel (die Amme von Elsbeth). Sehr sympathisch, dass die Comprimari-Rollen (fast) alle durch die jungen Sänger der jüngst (neu) gegründeten Académie de l’Opéra Comique gesungen & gespielt werden: Matthieu Justine, Yoann Le Lan, Virgile Frannais, Pascal Gourgand, Pierre de Bucy, Juliette Gauthier und Louison Bayeux. Die größte Rolle/Sänger-Überraschung war für uns Thomas Dolié als Spark. Dieser ist bei Musset der geerdete, etwas langweilige Gegenpol zu dem fantasievollen Fantasio, der sich dessen „Hirngespinste“ Pfeifenrauchend, Biertrinkend und gelangweilt anhört. Doch bei Jolly mutiert er zum energischen Studenten-Anführer, der seine Arie an einem Gerüst kletternd, hängend, mit Kopf nach unten, beeindruckend singt: Komplimente an den Sänger und an den Regisseur! Nach dieser bejubelten Vorstellung – rappelvoller Saal mit auffallend jungem Publikum – habe ich keinen Zweifel, dass Fantasio, von dem man immer nur einige Arien im Konzert hörte, nun wieder in seiner Gänze den Weg auf die Bühne finden wird. Es war auch höchste Zeit.

Waldemar Kamer, 20. Dezember 2023


Fantasio
Jacques Offenbach

Opéra Comique, Paris

15. Dezember 2023

Inszenierung: Thomas Jolly
Dirigat: Laurent Campellone
Orchestre de chambre de Paris