Frankfurt: „Der Traumgörge“, Alexander Zemlinsky

Daß Alexander Zemlinskys 1906 fertiggestellte Oper Der Traumgörge erst 1980 uraufgeführt wurde, ist ein Kollateralschaden der antisemitischen Intrigen gegen den seinerzeitigen Wiener Hofoperndirektor Gustav Mahler, welche 1907 – mitten in den Proben zu dem neuen Stück – zu dessen Demission führten. Der Nachfolger setzte das Stück ab, die Partitur verschwand für Jahrzehnte in der Schublade. Seit der Wiederentdeckung wird allenthalben die farbige Musik gerühmt, die von Wagner ausgehend einen eigenen spätromantischen Ton findet, dem man impressionistische Einflüsse anhört. Es werden aber auch die enormen technischen Anforderungen an das Orchester und noch mehr an den Sänger der Titelpartie betont. Diese stellt schon durch ihren schieren Umfang einen Kraftakt dar und erfordert die Kondition eines Tristan in Kombination mit einer lyrischen Grundanlage. In der Frankfurter Erstaufführung nun zeigt sich das Ensemblemitglied AJ Gluckert diesen Anforderungen in bewundernswerter Weise gewachsen. Sein edelherb timbrierter Tenor beeindruckt wie zuletzt als Lyonel in Martha mit einer ungefährdeten und unforcierten Höhe, die bruchlos mit der bronzen getönten Mittellage verbunden ist. Im ersten Akt erscheint Görge als Außenseiter, der verträumt in einer Welt der Märchen lebt. Gluckert findet dafür den passenden lyrischen Grundton, den er auch dann nicht aufgibt, wenn die Orchesterfluten ihn zuzudecken drohen.

AJ Glueckert (Görge) und Magdalena Hinterdobler (Grete)
© Barbara Aumüller

Und das ist mehr als einmal der Fall, denn Markus Poschner am Pult des gut aufgelegten Orchesters entfaltet zwar den ganzen Farbenreichtum der Partitur, nimmt dabei aber gerade im ersten Akt zu wenig Rücksicht auf die Sänger. Sebastian Weigle hatte in der vergangenen Saison bei der Elektra demonstriert, daß das Opern- und Museumsorchester in der Lage ist, bei spätromantischen Monsterpartituren die Dynamik sängerfreundlich zurückzunehmen, ohne dabei Abstriche bei Farbigkeit und Intensität zu machen. Ein Klangrausch muß die Dynamik nicht bis zur Grenze ausreizen. Poschner erliegt dieser Versuchung aber im Laufe des Abends immer wieder. Das wird dann für die Verhältnisse des Frankfurter Zuschauerraumes schlicht zu laut. So fehlt es besonders im ersten Akt mitunter an der Klangbalance zwischen dem seine Kräfte klug einteilenden Sänger der Titelpartie und dem auftrumpfenden Orchester. Wenn das bei den Folgevorstellungen korrigiert würde, könnte man von einer musikalisch perfekten Gesamtleistung sprechen. Auch Liviu Holender würde von mehr dynamischer Rücksichtnahme aus dem Orchestergraben profitieren. Denn bei seiner kraftvollen Anlage von Görges Nebenbuhler Hans um die Hand der Müllerstochter Grete kommt er im Gegensatz zu AJ Gluckert nicht ohne Forcieren aus. Magdalena Hinterdobler als Grete verfügt dagegen über eine von Natur aus große Stimme, mit der sie anstrengungslos in den Orchesterklangmassen baden kann.

© Barbara Aumüller

Tilmann Köhler überfrachtet seine Inszenierung nicht mit den im Regisseurs-Theater so beliebten Übermalungen, Aktualisierungen oder Verlegungen in andere Sujets. Er vertraut auf die Musik, was klug ist, und er vertraut auf das Libretto, was heikel ist. Denn die Handlung zerfällt in drei höchst unterschiedliche Teile. Der erste Akt stellt den Titelhelden vor, zeigt sein Außenseitertum, seine Fremdheit im eigenen Dorf. Er träumt von einer Märchenwelt und flieht vor einer geplanten Hochzeit mit Grete aus dem Dorf. Zum Markenzeichen von Köhlers Frankfurter Inszenierungen gehört regelmäßig ein von Karoly Risz entworfenes Bühnenbild aus hellem Holz. Hier zeigt es eine den gesamten Bühnenraum ausfüllende, nahezu leere Bauern-Puppenstube. Der Rückprospekt wird von unregelmäßig und bizarr gezackten Durchgängen durchbrochen. Von hinten beleuchtet, werfen sie Schatten auf die Seitenwände mit der Anmutung gotischer Spitzbögen. Das erinnert an Kulissen in expressionistischen Stummfilmen der 1920er Jahre. Jan Hartmann belebt mit seiner Lichtregie das reduzierte Bühnenbild, zeigt neben dieser Stummfilmästhetik auch Schattenwürfe der Hauptfiguren, die wie Scherenschnitte wirken. In einer Wagners Waldweben aus Siegfried nachempfundenen Monologszene Görges an einem Bach, imaginieren Lichtreflexe tatsächlich ein fließendes Gewässer, das auf der Bühne nicht zu sehen ist. So gelingen gerade im ersten Akt atmosphärisch dichte Bilder. Die derbe Holz-Dorf-Welt wird durch den Einsatz von Licht-und-Schatten-Effekten gleichsam transzendiert, deutet die Welt der Märchen an, in die Görge sich hineinträumt. Die Kostüme von Susanne Uhl lehnen sich hier an die vom Libretto vorgesehene Epoche, die nachnapoleonische Zeit des 19. Jahrhunderts an. Da es Köhler in gewohnter Weise gelingt, seine Figuren in Mimik und Gestik zu individualisieren und die Handlung plausibel voranzutreiben, kann man von einer werkadäquaten Umsetzung sprechen.

Magdalena Hinterdobler (Grete), AJ Glueckert (Görge), Liviu Holender (Hans), Ensemble
© Barbara Aumüller

Der zweite Akt dagegen ist bereits im Libretto uneinheitlich und in Teilen unplausibel angelegt. Zudem hat er einige Längen. In einem anderen Dorf angekommen, findet Görge in der als Hexe verschrienen Gertraud eine Seelenverwandte. Die Bauern des Dorfes küren ihn zum Anführer eines Aufstands, erwarten aber die Lossagung von Gertraud, was Görge verweigert. Dazwischen hat Zemlinsky eine nicht enden wollende (platonische) Liebesszene zwischen Görge und Gertraud eingesetzt, vor deren sanft dahinplätschernder Spannungslosigkeit auch Tilmann Köhlers Regiekunst kapitulieren muß. Er läßt die Szene gleichsam konzertant geben. Zuzana Marková hat hier als Gertraud starke, weil zurückgenommene Momente. In emotional aufgewühlteren Passagen überzeugt sie allerdings mimisch mehr als gesangstechnisch. Schon beim ersten Auftritt hat man den Eindruck, daß hier eine ursprünglich schlanke Stimme sich mit Kraftanstrengung am jugendlich-dramatischen Fach versucht und diese mit Überdruck bewirkte Expansion über die Grundanlagen hinaus mit Ansätzen von Schärfe und einem kaum zu kontrollierenden Vibrato erkauft. Insbesondere dann, wenn es laut und hoch wird, ist die Amplitude ihres Vibratos derart groß, daß exakte Tonhöhen kaum mehr identifizierbar sind.

Eingerahmt wird dieser etwas durchhängende Moment der Liebesszene von einer musikalisch kraftvoll gezeichneten Kneipenszene und einer sehr bedrohlichen Raserei des wütenden Mobs auf Hexenjagd. Hier spielen der machtvoll auftrumpfende Chor und das vorzügliche Ensemble ihre Stärken aus, allen voran Iain MacNeil, der mit seinem saftigen Bariton einen derart beeindruckenden Bauernführer abgibt, daß man sich fragt, wozu die Menge sich noch der Wortgewandtheit Görges versichern muß.

Iain MacNeil (Kaspar; mit Gitarre) und Ensemble
© Barbara Aumüller

Ein seltsam angeklebter Epilog zeigt Görge mit Gertraud als Rückkehrer zum Dorf des ersten Aktes. Dort gelangt Görge zu wirtschaftlichem Erfolg und erfährt eine geradezu unterwürfige Ehrerbietung durch die Dorfgemeinschaft. Milde verdämmert das Ende in Harmonie. Diesen dramaturgisch schwachen Schluß rettet Tilmann Köhler, indem er ihn als Märchenwelt interpretiert. Die hölzerne Rückwand ist verschwunden. Vom Bühnenhimmel schneit Glitzerkonfetti in das dadurch sichtbar gewordene schwarze Nichts, vor dem Gertraud sich sanft auf einer Schaukel wiegt. Daß das Paar tatsächlich in einem Märchenland angekommen ist, zeigt ein Detail, welches sich erst durch die Lektüre des instruktiven Begleitheftes erschließt: Auf dem leeren Holzboden entfalten die beiden ein golddurchwirktes Tuch und lassen sich darauf wie auf einer Picknickdecke nieder. Das ist ein Motiv aus dem Kunstmärchen „Vom unsichtbaren Königreiche“ des Dichters Richard Volkmann-Leander, welches eine der Hauptquellen des Librettos ist. Dort träumt sich der „Traumjörge“ in ein Märchenreich hinein, in dem eine Prinzessin auf einer Schaukel sitzt, welche mit zwei Seilen an den Sternen befestigt ist. Am Ende nimmt der Traumjörge der Märchenvorlage die Prinzessin mit in seine Welt und erhält als Geschenk ein hundertfach gefaltetes Tuch, das sich bei seiner Ausbreitung als magische Landkarte eines Königreiches entpuppt, in welchem Jörges Mühle zum Schloß und die Dorfbewohner zu Untertanen mutieren. „Lebendig müssen die Märchen werden!“: Viel deutlicher als im Libretto löst die Regie diese im Laufe des Stückes vorgebrachte Forderung ein und verbindet damit den Respekt vor dem Werk mit der szenisch fruchtbar gemachten Expertise des Dramaturgen.

© Barbara Aumüller

„Schön war’s!“, versichern sich zwei ältere Herren nach der Vorstellung an der Garderobe, und das trifft die allgemeine Stimmung des Premierenpublikums. Der Schlußapplaus ist fern von frenetischem Überschwang, drückt dafür eine leicht erschöpfte Anerkennung für die musikalische Leistung aller Beteiligten aus und bezieht in den ungeteilten, warmen Beifall auch das Regieteam mit ein. Die angeführten kleineren Kritikpunkte schmählern nicht den guten Gesamteindruck einer musikalisch hochrangigen und szenisch unangestrengt werktreuen Produktion.

Michael Demel, 28. Februar 2024


Der Traumgörge
Oper in zwei Akten und einem Nachspiel von Alexander Zemlinsky

Oper Frankfurt

Bericht von der Premiere am 25. Februar 2024

Inszenierung: Tilmann Köhler
Musikalische Leitung: Markus Poschner
Frankfurter Opern- und Museumsorchester

Trailer