Kassel: „Katja Kabanova“, Leoš Janáček

Was sollen also da Reflexionen über eine Szene, die sichtbar nicht in der Mitte des russischen 19. Jahrhunderts angesiedelt ist? Die Regisseurin Christiane Pohle hat sich zusammen mit dem Bühnenbildner Anton von Bredow ein setting ausgedacht, dass das Innere (und Äußere) der schwierigen Beziehungen der Oper gleichsam sinnbildlich zeigt.

© Sylwester Pawliczek

Ein in einen (echten?) Felsen brutal hineingebauter Beton-Bungalow mit Veranda, Maschendrahtzäune, ein leerer Pool, ein Planschbecken, ein Kinderspielhaus, eine Altar mit großer männlicher Heiligenfigur (sie wird, vor dem Gewitter, bei der einzigen kompletten Drehung der Drehbühne sichtbar), am Ende grelle Flutlichter, die das offensichtliche Unglück anstrahlen: Das ist die lebenswirkliche wie gelind surreale Umgebung, in der sich die Geschichte der Ehebrecherin aus Verzweiflung, ihres schwachen Ehemannes und eines ebenso schwachen Liebhabers, der schrecklichen Schwiegermutter und eines zweiten Liebespaars, das sich aus der Kolonie zu befreien vermag, 90 Minuten lang abspielt. Während vorn die Tragödie ihren Lauf nimmt, sehen wir hinten – es ist diskret genug, um die Hauptsache nicht zu stören – auf eine Sportplatztribüne, vor der eine Weitspringerin immerzu in den Sandkasten springt, bis sie sich das Knie verletzt. Eine Metapher, was sonst? Denn die Aufführung spielt im Theater, nicht im nahe gelegenen Aue-Stadion. Der Kern der Geschichte ist, das zeigt der Abend in Gänze, auch wenn keine „Wolga“, sondern nur ein Teichlein zu sehen ist, offensichtlich unabhängig von historischer Zeit und fremdem Raum denkbar, weil die Verstrickungen, denen die Gestalten unterliegen, damals wie heute existieren. Warum denn lesen wir viel zu oft von Familienhorror und Beziehungstaten? Frauen leiden im Übrigen immer noch, wenn sie, bei stärkstem Kinderwunsch, keine Kinder bekommen; kurz vor ihrem Ende entledigt sich Katja Kabanova am sinnlos gewordenen Kinderhäuschen all der Dinge, die fürs Kind gedacht waren. Regietheater? Regietheater!

© Sylwester Pawliczek

Vorn wird also die Geschichte des „weichen guten Menschen“ (O-Ton Janáček) psychologisch genau erzählt. Die tyrannische Kabanicha wird zwar nicht sympathischer, wenn sie irgendein ein persönliches Papier zerschneidet und mit dem Nachbarn Dikoj rummacht, aber sie wird vermenschlicht. Es ist letzten Endes wesentlicher als Überlegungen über die Ästhetik des wie auch immer gearteten Bilds, in dem eine solche Szene Platz hat. Die Basis ist das Orchester, also das Staatsorchester Kassel, das sich unter dem Einspringer Daniel Carlberg, der das Dirigat von Moritz Gnann übernahm, zunehmend in die subtile, kammermusikalisch inspirierte, rhythmisch vertrackte und auf verhaltene Weise pathetisch aufgeladene Welt des Solitärs Leos Janáček hineinbegibt. Gut auch der Opernchor des Staatstheaters, der zwar relativ wenig, dafür umso Bedeutenderes, insbesondere die schönsten mystischen Vokalisen anstimmt. Und da ausnahmslos alles Interpreten der Rollen wissen, was sie da singen, spielt sich das Drama der unbefriedigten Frau, die nicht nur unter der Fuchtel der bösen Frau, sondern fast mehr noch unter der Passivität des Mannes leidet, mit Spannung vor uns ab. Denn Margrethe Fredheim, den Boris Ric Furmans (ein alle Facetten ausfüllender Charaktertenor), die schön schreckliche Kabanicha Ulrike Schneiders, nicht zuletzt den erstrangige Patricio Arioyo-Lesuisse als Kudrjas (ein exzellenter Bariton), die Varvara der Ena Pangrac und den Dikój Donn Lees zu sehen und zu hören bedeutet, ein Musiktheater der menschlichen Figuren zu erleben, auf das der Komponist, der sich den Text von Ostrowskis Gewitter selbst eingerichtet hat, bei aller Ferne zu den Sehgewohnheiten der Janáček-Zeit, vermutlich positiv reagiert hätte. Wenn er, in Gestalt eines Statisten, ab der Begegnungsszene des 2. Akts durch die Szene streicht, ist er ja schon, als neutraler Beobachter, anwesend. Janáček in der Katja, Wagner in den Bayreuther Meistersingern in Barrie Kosky Deutung, Rossini im Linzer Barbier und Puccini in der von Herheim inszenierten Manon Lescaut, Mozart in der Prager Zauberflöte: man sollte den Komponisten noch nachträglich ein Honorar dafür zahlen, dass sie heute in ihren eigenen Opern aufzutreten haben.

© Sylwester Pawliczek

Janáček in Kassel: er war tatsächlich am Ort. Zu weit gesprungen, irreparabel das Knie verletzt? Das gilt nur für die Titelfigur, die am Ende in einem Totensack endet, grell beleuchtet vom Flutlicht, das zugleich uns, die Zuschauer, blendet. Langer Beifall also für eine Produktion, die die Besucher denn doch an der richtigen Stelle gepackt hat.

Frank Piontek, 16. Oktober 2024


Katja Kabanova
Leoš Janáček

Staatstheater Kassel

Premiere: 21. September 2024
Besuchte Aufführung: 13. Oktober 2024

Inszenierung: Christiane Pohle
Musikalische Leitung: Daniel Carlberg
Staatsorchester Kassel