Leipzig, Ballett: „Romeo und Julia“, Sergej Prokofjew

Für eine sensationelle Eröffnung der neuen Spielzeit sorgte das Leipziger Ballett mit der Neuproduktion von Prokofjews Klassiker Romeo und Julia. Lange nicht hat man auf einer deutschen Ballettbühne eine Aufführung von solch dramatischer Spannung, geballter Energie, emotionaler Dichte und ans Akrobatische grenzender Bravour erlebt. Die Choreografie der Amerikanerin Lauren Lovette, die vor Jahren beim New York City Ballet selbst die Julia getanzt hat, ist keine Übernahme von einer anderen Compagnie, sondern sogar eine Uraufführung. Sie fußt auf neoklassischem Vokabular und lässt, vor allem in den Hebefiguren der Pas de deux, John Cranko und Kenneth McMillan als Vorbilder erkennen. Überwältigend ist das starke Engagement des Leipziger Ensembles, das sich mit totalem Einsatz und erstklassigem technischem Können für das neue Ballett einbringt.

Gespielt wird Prokofjews revidierte Fassung von 1940, die unter Mitarbeit von Adrian Piotrowski, Leonid Lawrowski und Sergej Radlow entstand. Deren gravierendste Änderung ist die fehlende Musik nach der Verletzung Mercutios im Duell mit Tybalt, so dass dessen tragikomisches Solo vor seinem Tod ausbleibt. Das bedauert man vor allem deshalb, weil der Interpret der Rolle, Marcelino Libao, mit seinen spektakulären Auftritten voller Temperament und Bravour immer wieder Glanzpunkte des Premierenabends am 26. Oktober 2024 setzt. Einige Änderungen gehen auf das Konto der Choreografin, so der Verzicht auf Julias Amme, deren Funktionen hier Rosalinde, Julias engster Vertrauter, übertragen sind. Madoka Ishikawa gibt sie mit jugendlicher Vitalität und starker Empathie für die Capulet-Tochter. Wie in vielen Versionen hat Ester Ferrini als strenge Lady Capulet ein furioses Solo am Leichnam Tybalts in exaltierter Gebärde und rasendem Vergeltungswahn. Aufgewertet sind Benvolio (Landon Harris mit sportivem Aplomb) und Tybalt, den Carl van Godtsenhoven zu einer herrischen Figur mit gefährlicher Aura formt. Seine Kampfszenen mit Mercutio und Romeo sind von Atem beraubender Spannung und Dramatik. Überhaupt zählen die aggressiven Auseinandersetzungen der rivalisierenden Montagues und Capulets zu den stärksten Einfällen der Choreografin (inspiriert von Robbin´s West Side Story) und dank der beklemmenden Umsetzung durch das Corps de ballet zu den eindrücklichsten Momenten der Aufführung.

Neu gesehen ist auch Lorenzo (Vincenzo Timpa), der hier nicht als Pater erscheint, sondern ein Freund Romeos ist und im Konflikt der verfeindeten Familien vermitteln will. Mit seiner Hilfe gelingt es Romeo und seinen Freunden als Kellner verkleidet in den Ballsaal zu gelangen. Dort sieht man Paris (Oscar Ward mit gebührend blasierter Attitüde) im Tanz mit Julia immer zudringlicher zu werden, was deren Abneigung hervorruft. Die Ballgesellschaft in Smokings und seidenen Abendkleidern in raffinierten Beige-, Rosé- und Rot-Tönen gibt ein elegantes Bild ab. Entworfen hat sie Thomas Mika, der auch das Bühnenbild erdachte. In einer Version von „Theater auf dem Theater“, siedelt er die einzelnen Szenen in Schauplätzen des Leipziger Opernhauses an, beginnend mit der bis auf die hintere Brandmauer leeren Bühne. Diesem ernüchternden Anblick folgen die gediegenen Foyers des Hauses mit Kristalllüster, Mosaik-Säulen und Sofas sowie Sitzreihen im Zuschauerraum mit den berühmten Pusteblumen-Leuchten. Damit wird ein lokaler und zeitlicher Bezug auf das Geschehen verweigert, die Geschichte quasi in eine neutrale, heutige Ebene verlegt.

Ein Glücksgriff für die Produktion sind die beiden Protagonisten. Soojeong Choi ist eine bezaubernde Julia voller jugendlichem Überschwang und graziler Anmut. Deutlich macht sie ihre Betroffenheit am Tod Tybalts, was zu einer momentanen Entfremdung zwischen ihr und Romeo führt. Die Trauer um den getöteten Bruder und die Liebe zu Romeo gestaltet sie als schier übermenschlichen Konflikt überaus eindringlich. Dass die Liebe siegt, liegt auch an Andrea Carino, der einen überaus sympathischen und attraktiven Romeo zeichnet. Seine Trios mit Mercutio und Benvolio sind rasant, die Liebesszenen mit Julia ergreifend.

Zu diesem beglückenden, bejubelten Abend, der dem neuen Ballettdirektor Rémy Fichet ein glänzendes Zeugnis ausstellt, trägt auch das Gewandhausorchester Leipzig bei, das unter Leitung der russischen Dirigentin Anna Skryleva Prokofjews Musik in aller Schärfe und Schroffheit, aber auch sensibelster Lyrik erklingen lässt.

Bernd Hoppe 30. Oktober 2024


Romeo und Julia
Sergej Prokofjew
Leipziger Ballett im Opernhaus Leipzig

Premiere am 26. Oktober 2024

Choreografie: Lauren Lovette
Musikalische Leitung: Anna Skryleva
Gewandhausorchester Leipzig