Nürnberg: „Eugen Onegin“, Peter Tschaikowsky

Müsste die Tschaikowskys bekannteste Oper nicht eigentlich – und uneigentlich – Tatjana heißen?
Jein – denn die drei Akte der „Lyrischen Szenen“, wie der Komponist sein Werk gattungsmäßig nannte, könnten auch jeweils nach den Hauptpersonen der jeweiligen Akte benannt werden: Tatjana, Lenskij, Onegin. Wer jedoch die vermutlich beliebteste Szene, die Briefszene, und den letzten Auftritt im dritten Akt so stark zu machen weiß, wie wir’s am Abend während der Premiere im Nürnberger Staatstheater erlebten, könnte auf die Idee kommen, dass Eugen Onegin in Wahrheit Tatjana heißt, und dies nicht allein deshalb, weil die Sängerin der Partie, die als Einspringerin den Abend rettete, witzigerweise fast den Vornamen ihrer Heldin trägt: Tetiana Miyus. Wenn es stimmt, dass sich der homosexuelle Komponist nicht nur, das sind so Thesen, mit dem auf Olga eifersüchtigen Onegin, sondern vor Allem mit „seiner“ Tatjana identifizierte, hat die Neuproduktion in der Sängerin ihr Zentrum gefunden. Freilich agiert sie als Prima inter pares innerhalb eines völlig stimmigen Ensembles: Samuel Hasselhorn, Sergei Nikolaev, Almerija Delic und Corinna Scheurle als Onegin, Lenskij, Filipjewna und Olga. Im Übrigen scheint sich auch Puschkin besonders für Tatjana, konkret: für ihr Herz zu interessieren. In Armin Petras’ Inszenierung läuft der Dichter schon Minuten vor dem ersten Ton vor dem Vorhang herum, er „läuft durch die Oper und wundert sich“.

© Bettina Stöß

Stefanie Schaefer spielt den Dichter, der sich über Tschaikowskys Vertonung so wundert wie manche Puschkin-Freunde des 19. und noch der jüngeren Zeit (Tschaikowskys Vertonung einiger Szenen des bedeutenden Vers-Epos gilt bei einigen Literaturfreunden durchaus nicht als „angemessen“, wie immer man auch das Verhältnis zwischen einem mehrere 100 Verse umfassenden, genialen Text und einem musikalischen Bühnenwerk beurteilen mag). Er beobachtet „seine“ Protagonisten, ist vermutlich nicht mit jeder der Tschaikowsky’schen Variationen einverstanden, greift am Ende gar korrigierend ins Geschehen ein, wenn er im 1. Akt für die zweite Begegnung Onegins mit Tatjana einen Birkenstamm auf das von Julian Marbach entworfene Bühnenpodest bringt und schließlich sardonisch grinsend, anzeigt, dass er soeben Tatjanas Ehemann erschossen hat. Das ist manchmal lustig, manchmal ein bisschen nervend, aber selten störend. Die Briefszene, die Petras, als wär’s ein Stück des sog. Sozialistischen Realismus, mit den nunmehr gebückt leidenden Bauernfiguren bevölkert, zwischen denen der Dichter wie ein Federwisch umherschwirrt, wird durch derlei Aktionismus nur dann beschädigt, wenn man den Blick vom Wesentlichen abwendet. Wie gesagt: Tetiana Miyus zieht alle Aufmerksamkeit auf sich. „Geburt einer Schriftstellerin“, nennt Petras das mit einem seiner vielen über die Projektionsfläche flimmernden Kommentare. Die Inszenierung verweigert sich dort einem Bühnen-Realismus, wo zwar nicht auf das Requisit der Feder verzichtet wird (Rabenvögel sieht man, neben Wolf und Eule, auch im von Maria Tomiaga und Julian Marbach gestalteten Schwarzweiß-Video), ein Brief aber nicht real geschrieben wird, obwohl Tatjana am Ende der betörenden Szene mehrere ausgefüllte Seiten an die Rückwand kleben kann – die der begeisterte Dichter sogleich sichert. Ob die hinzuerfundene stumme Figur des Onegin-Dichters der Interpretation, zumal der Tatjana, Wesentliches hinzufügt, liegt am Ende im vielzitierten Auge des Betrachters. Zumindest verweist sie auf die Differenz zwischen der poetischen Vorlage und der Oper, um mit eigenen Texten die Handlung, die sich ja nicht ganz von selbst versteht, zeitgleich zu kommentieren. Nicht allein Tatjana war und ist ein Spielball verschiedenster Deutungen. Ob ihr und Onegin, wie es die Dramaturgie der Produktion suggeriert, wirklich im ersten Akt das sog. Glück zum Greifen nah war, ist eine interessante Theorie, die man nicht teilen muss, um über sie nachzudenken.

© Bettina Stöß

Betörend ist diese Tatjana schon durch ihre Stimme. Mit einer Klarheit sondergleichen strahlt der Sopran in den Raum. Es ist eine einzige Freude, die Sängerin bei der scheinbar mühelosen Arbeit zu erleben; der Rezensent bekennt, dass er gern in der ersten Parkettreihe gesessen hätte, in der die Briefszene endet. Großartig auch die Njanja der Almerija Delic: kein altes, leicht seniles Mütterchen, sondern eine durchaus selbstbewusste Frau, die, das sind so Köstlichkeiten der Personenregie, in betont künstlich-eckige Gesten (als wär’s ein Stück des Kubistischen Theaters von Anno 1920) ausbricht, wenn sie auf Dumm schaltet, um Tatjana daran zu hindern, den Brief an seinen Adressaten weiterzuschicken. Delic ist allerdings schon dann großartig, wenn sie im 2. Akt „nur“ 20 Minuten lang starr wie eine Säule steht.

Künstliche Gesten beobachtet man auch bei Olga; das passt, denn die Tatjanas lebenslustig-leichtherzige Schwester liebt es, zu spielen. Ihre Selbstdarstellung gerät zur Show-Nummer – so wie sie, und auch das ist, im Kontrast zu Tatjanas, Lenskijs und Onegins Geschichte(n), lustig, zusammen mit dem sechsköpfigen Tanzensemble im 2. Akt choreographisch genau mitmacht: bis hin zum modernistisch beinschwingenden Cotillon mit Onegin. Währenddessen futtert Tatjana ihre Geburtstagsfrust-Torte, und Lenskij darf vorschriftsmäßig leiden. Die Duell-Szene gerät zu einem Verzweiflungsakt. Die freundfeindlichen Kontrahenten drücken sich die Pistolen auf den Bauch, bis Onegin abdrückt: ein Suizid mit Fremdhilfe. Lenskijs Abschiedsarie kassiert, da Sergei Nikolaev sie ansprechend innerlich und vokal makellos gestaltet, als lyrische Tenor-Perle Extrabeifall.

© Bettina Stöß

Onegin hat schon im zweiten Akt unsere ganze Aufmerksamkeit, weil Samuel Hasselhorn die Partie mit männlicher Durchschlags- und genauer Gestaltungskraft realisiert. So geraten auch seine Selbstbekenntnisse im dritten Akt zu Höhepunkten einer Aufführung, die musikalisch vom ersten bis zum letzten Takt begeistert. Nur befinden wir uns im Schlussbild nicht in der angedeuteten Szenerie der 1820er bis 1860er Jahre, sondern in einem „semi-heutigen Petersburg“. Aus Olga wurde eine „Schlampe“ (der Begriff taucht während Gremins Arie anstatt der harmloseren „Koketten“ in den Obertiteln auf), aus der Njanja eine Domina, die ihre sechs Sexy-Dancing-Girls im Griff hat, aus dem Ballsaal der Vorplatz zu einem Club für zasterverteilende Neureiche, die Lust auf schnellen Sex haben. Gremin ist der Chef des depravierten Haufens eines neuen russischen Geldadels, in dem Tatjana die Frau des Straßen-Oligarchen zu spielen hat, der sein „Palais“ weitab des Newski-Prospekts betreibt. Nicolai Karnolsky stattet diesen Typen mit einem Charme aus, der irgendwo zwischen tiefer Menschlichkeit und Gewaltbereitschaft angesiedelt ist: mit einem Schuss ins Ironische, dem die finale Siegerpose in den Schlusstakten seiner Arie ein gelächterprovozierendes I-Tüpfelchen verleiht. Ironisch ist auch der letzte Augenblock des Finales, obwohl es zwischen Onegin und Tatjana denn doch noch ernsthaft zugeht. Der Rest aber ist nicht Onegins Verzweiflung, sondern Puschkins Grinsen: das leicht verrückte Lächeln eines latent heruntergekommenen Zeitwanderers.

Tschaikowskys Eugen Onegin aber wird, bei allen die Musik gelegentlich überwölbenden Textkommentaren zur Liebe im Allgemeinen und Tatjana und Onegin im Besonderen, einem skurrilen Auftritt Puschkins im Bärenkostüm (eine Spiegelung von Tatjanas merkwürdigem, textlich angezeigten Albtraum) und weiteren Transformierungen in eine surreal-reale Gegenwart, bruchlos gespielt. Während Puschkin durch die Oper läuft und sich darüber wundert, wie Tschaikowsky mit „seinen“ Figuren umgegangen ist, die er, der Dichter, doch mit seiner persönlichen Ironie in ein gänzlich anderes Licht getaucht hat, hören wir mit größter Freude zu, wie sich auch der wie immer erstklassige Chor des Staatstheaters und die, man kann’s nicht anders sagen, deliziös aufspielende Staatsphilharmonie Nürnberg unter Jan Croonenbroeck erfolgreich um die Lyrischen Szenen verdient machen. Man schwelgte in Tschaikowskys genialer Musik, und man litt, ohne aufs Nachdenken über den psychologisch mehrdeutigen Stoff verzichten zu müssen, mit den Figuren mit. Der Beifall ist denn auch lang und herzlich, auffälligerweise auch von jeglichen Missfallenskundgebungen frei.

© Bettina Stöß

Also: Onegin in Nürnberg – ein schöner, wohlverdienter Erfolg mit einer der besten Opern des 19. Jahrhunderts, der wieder einmal schlagend bewies, dass Tschaikowskys Überzeugung von der „Alltäglichkeit“, gar „Langeweile“ der Geschichte und seiner Musik, zu den seltsamsten Irrtümern gehört, die ein großer Opernkomponist jemals über eines seiner Werke äußerte.

Frank Piontek, 18. November 2024


Eugen Onegin
Peter Tschaikowsky

Staatstheater Nürnberg

Premiere: 16. November 2024

Regie: Armin Petras
Musikalische Leitung: Jan Croonenbroeck
Staatsphilharmonie Nürnberg