Paris: „Rheingold“, Richard Wagner

Alberich (Brian Mulligan), verstrickt in einem Kabel-Wust (der Rhein?), mit den Rheintöchtern in Taucheranzügen: Margarita Polonskaya (Woglinde), Isabel Signoret (Wellgunde) und Katharina Magiera (Flosshilde).
© Herwig Prammer / Opéra national de Paris

Lieber Opernfreund-Freund,

Richard Wagner hatte bekanntlich schlechte Erfahrungen mit der Pariser Oper gemacht. Denn trotz eines persönlich durch Kaiser Napoleon III. unterzeichneten Befehls, der ihm 163 musikalische Proben in fünf Monaten gewährte – ein bis heute nicht gebrochener Rekord! –, waren das Resultat bei der „Tannhäuser“-Premiere 1861 so mittelmäßig und die Ablehnung so lautstark, dass Minna Wagners Stubenmädchen das Publikum der Pariser Oper laut und vernehmlich als „Schweinehunde“ beschimpfte. Wagner schrieb wenige Wochen später die Worte von Alberichs Fluch im „Rheingold“, und irgendwie scheint dieser zusammen mit dem berüchtigten Phantom in dem unterirdischen See unter der Pariser Oper zu hausen. Denn es gab seitdem hier auffällig viele Probleme mit dem „Ring des Nibelungen“. Die durch mich besuchte Vorstellung ist offiziell die 109. dieses Werks, aber es lässt sich nicht mehr eruieren, wie die meisten anderen waren – denn sie fanden hauptsächlich vor 1955 statt. Und dieses „Rheingold“ ist erst die dritte Neuproduktion seit 70 Jahren! Der erste Versuch einer Tetralogie unter dem legendären Intendanten Rolf Liebermann startete 1976 und musste schon ein Jahr später nach der „Walküre“ abgebrochen werden. Erst 2010 wagte sich Nicolas Joël in seiner ersten Spielzeit an einen neuen „Ring“ mit Philippe Jordan, der vor seiner Ernennung zum jüngsten Musikdirektor der Pariser Operngeschichte schon einen „Ring“ in Zürich dirigiert hatte. Mit Jordan und dem Regisseur Günter Krämer verlief alles reibungslos bis zur einer „Götterdämmerung“ im Juni 2011. Danach wurden alle vier Werke von Januar bis Juni 2013 einzeln wiederaufgenommen und dann zweimal in einer Woche als „Bühnenfestspiel“ gegeben. Zu seinem Abschied von Paris wünschte sich Philipp Jordan einen zweiten „Ring“, der nun schneller entstehen sollte mit dem Regisseur Calixto Bieito. Doch das Projekt versandete in der Pandemie: Die „Rheingold“-Proben mussten im März 2020 abgebrochen werden – denn im ersten Lockdown wurde gleich alles an der Oper abgesagt. Jordan kämpfte um eine zweite Chance im Herbst 2020, doch dann kam der zweite Lockdown, und es war nur noch eine Rundfunkaufnahme ohne Publikum möglich. Sowieso hatte der damalige Intendant Stéphane Lissner inzwischen schon das Handtuch geworfen und sich erfolgreich nach Neapel abgesetzt. Fünf Jahre später gelingt nun der dritte Anlauf immer noch der gleichen Produktion, inzwischen mit einem neuen Dirigenten, Pablo Heras-Casado, einer vollkommen neuen Besetzung und anscheinend einem recht anderen Bühnebild als ursprünglich geplant (so zumindest Stéphane Lissner, den ich zufällig beim Betreten der Oper traf). Die Erwartungen waren also sehr hoch, als vor einem aus der ganzen Welt angereisten Publikum endlich das tiefe Es der Kontrabässe aus dem Graben erklang.

Die Nibelheim-Werkstatt, in der humanoide Roboter (?) gebastelt werden. Links Iain Paterson (Wotan), oben Ève Maud-Hubeaux (Fricka).
© Herwig Prammer / Opéra national de Paris

Der Klang war wunderbar (gleich mehr zu Dirigent und Orchester), aber was man auf der Bühne sah, wirkte wie ein schlechter Witz: ein wabernder Vorhang, hinter dem man eine Metallwand, quasi ein Baugerüst vermuten kann, auf den erst ein Video mit Füßen im Wasser projiziert wird und dann eine nicht endende Fahrt durch die leeren Tresorräume der Banque de France (wie man erst begreift, wenn man das Programmheft gelesen hat). Nur Kälte und keine Natur. Alberich steht allein auf der Vorderbühne in einem riesigen Konvolut von Kabeln, die ihn quasi den ganzen Abend beschäftigen werden, bis dann irgendwann die drei Rheintöchter unter dem Vorhang hervorkriechen – und sich auch für die Kabel interessieren. Das war’s. Wir sind Lichtjahre entfernt von Krämers Rhein, wo über hundert Statisten-Arme mit langen roten Handschuhen wogten und Alberich wie Wasserpflanzen umschlangen (unvergessliche Choreographie seinerzeit von Otto Pichler). Einen Choreografen gibt es jetzt nicht, wozu denn auch: es gibt keine Statisten und dafür Video. Und szenische Peinlichkeiten, beginnend mit diesem Vorhang, der Alberich sozusagen auf den Kopf fällt und den er dann wie ein Bühnenarbeiter zusammenraffen und an die Seite schaffen muss – das ist also das mythische Gold? Der riesige graue Metall-Kubus mit unzähligen Löchern soll Walhalla sein, und davor fährt eine meterlange Couch von der Seitenbühne ein, auf der nicht nur Wotan und Fricka, sondern quasi die ganze Besetzung gemütlich miteinander palavern kann, als ob ein Kammerstück inszeniert wird. Im dritten Bild fährt der Boden hoch und wir sehen die Nibelheim-Werkstatt, in der aber nicht gehämmert wird (wie deutlich in der Musik), sondern Alberich quasi allein mit Mime herumwerkelt – mit Kabeln natürlich. Sie scheinen an verkabelten Humanoiden (Robotern?) zu basteln, deren Gliedmaßen wie in einem Labor von der Decke hängen. Mehr braucht man wohl nicht zu beschreiben: Die Inszenierung wirkt erstaunlich „unausgegoren“ – viele Ideen, die oft nicht ganz zueinander passen und sich gegenseitig annullieren. Das zeigt sich vor allen in den Kostümen: Obwohl wir nur Kabel gesehen haben, erscheinen die Rheintöchter in hellblauen Taucheranzügen, Fafner kommt aus dem Far West mit Fransenlederjacke und Cowboy-Hut, doch sein Bruder Fasolt trägt einen billigen Büroanzug mit Krawatte. Freia erscheint als Bäuerin in grünen Gummistiefeln, Erda in einem nicht definierbaren, grünen Clochard-Kleid, Donner sieht aus wie ein Baseball-Spieler und Froh wie ein Prophet aus der Bibel. Nur Wotan und Fricka scheinen maßgeschneiderte Kostüme zu tragen, was an sich eine Provokation ist im eleganten Paris und einem Opernhaus mit legendären Kostümwerkstätten. Schon sehr erstaunlich, denn mit dem gleichen Ausstattungsteam hatte Bieto hier 2016 einen tadellosen „Lear“ von Reimann inszeniert.

Der amerikanisch-irische Bariton Brian Mulligan, der die Vorstellung rettete: obwohl er als Alberich debütierte, sang er auch noch quasi aus dem Stehgreif den Wotan (für den erkrankten Iain Paterson).
© Herwig Prammer / Opéra national de Paris

Bei den Sängern gab es ebenfalls einige Ungereimtheiten. Ursprünglich sollte Ludovic Tézier als Wotan debütieren. Doch er fiel während den Proben aus, offiziell wegen einer schweren Grippe, die es ihm nicht ermöglicht habe, ein so wichtiges Rollendebüt szenisch gut zu proben. Er flog gleich weiter nach München und singt dort stattdessen – zu genau den gleichen Daten wie in Paris – Renato im „Maskenball“. Iain Paterson – als Einziger 2020 schon dabei – übernahm die Rolle. Doch an der durch mich besuchten zweiten Vorstellung wachte er mit der auch in Paris so gefürchteten Sänger-Grippe auf und konnte seine Rolle nur noch sprechen. Brian Mulligan, der als Alberich debütierte – und damit verständlicherweise schon genug zu tun hatte -, kam nach seinem Abgang wieder auf die Bühne, nur dieses Mal mit Pult und Noten, um die restliche Rolle des Wotans zu singen, während der dankbare Iain Paterson stumm weiteragierte. Alle Achtung! Denn das war ganz offensichtlich nicht einfach, ohne Probe, mit den vielen Ensembles – und für die Kollegen natürlich auch recht kompliziert, wenn Wotan vor ihnen steht – aber seine Stimme einige Meter hinter ihnen erklingt. Die Einzige, die damit kein Problem zu haben schien, war die fulminante Fricka von Ève Maud-Hubeaux (vor kurzem noch Eboli an der Wiener Staatsoper). Ein beeindruckendes Wagner- und Rollendebüt! Sie war durch die Regie auch sehr begünstigt, als ob nur Wotan, Fricka und Alberich richtig ausgearbeitet worden wären. Die restlichen Figuren schienen den Regisseur offensichtlich weniger zu interessieren, was vielleicht auch erklärt, dass die betreffenden Sänger weniger Eindruck machten.

Sie seien also nur genannt: Simon O’Neill (Loge), Gerhard Siegel (Mime), Matthew Cairns (Froh), Florent Mbia (Donner), Kwangchul Youn (Fasolt), Mika Kares (Fafner), Eliza Boom (Freia), Marie-Nicole Lemieux (Erda), Margarita Polonskaya (Woglinde), Isabel Signoret (Wellgunde) und Katharina Magiera (Flosshilde). 

Der Stern des Abends war für mich das Dirigat von Pablo Heras-Casado und das Orchester der Opéra de Paris. Der Spanier dirigierte hörbar nicht seinen ersten „Ring“ (der war 2018 in Madrid) und machte letzten Sommer einen solch guten Eindruck in Bayreuth mit seinem „Tristan“, dass er dort anscheinend schon für den „Ring“ 2028 gebucht sein soll. Er dirigierte souverän mit großer Eleganz, federnd leicht, klug strukturiert, nie wuchtig, sondern mit großer Transparenz und ließ das Orchester – mit dem er sich offensichtlich gut versteht – stellenweise aufblühen. Am beeindruckendsten waren für mich dabei die Bläser, besonders die Hörner. Vor 15 Jahren waren sie noch bei dem ersten „Rheingold“ von Philipp Jordan die Achilles-Ferse des Orchesters und verpatzten damals einige Effekte. Doch jetzt spielten sie lupenrein, sogar mit Nuancen, die sich mit denen der Wiener Philharmoniker messen lassen können. Wirklich Weltklasse-Niveau. Da will man natürlich gerne hören, was da noch wird…

Waldemar Kamer, 3. Februar 2025


Rheingold
Richard Wagner

Opéra National de Paris (Bastille)

Premiere am 29. Januar 2025,
besuchte zweite Vorstellung am 2. Februar 2025

Inszenierung: Calixto Bieito
Dirigat: Pablo Heras-Casado
Orchester der Opéra de Paris

Informationen: www.operadeparis.fr