Bochum/Ruhrtriennale: „Último Helecho / 124 Years of Reverb“

Último Helecho

© Nina Laisné

Was der Star-besetzten Eröffnungsproduktion der „Ruhrtriennale“ an Spannung, kreativer Energie und atmosphärischer Dichte fehlt, liefert die erste Tanz-Kreation auf PACT Zollverein im Übermaß nach. „Último Helecho“, eine Tanz- und Gesangsperformance der vielseitigen Künstlerin Nadine Laisné und des Tänzers François Chaignaud, verknüpft zwar ebenfalls verschiedene Bühnen-Genres wie „I did it my way“ zum Auftakt des Festivals, findet aber zu einer in sich geschlossenen Form auf hohem künstlerischem Niveau. Auch wenn auf eine konkrete Handlung verzichtet wird und die auf Spanisch vorgetragenen Gesänge nicht übertitelt werden und den meisten Besuchern unverständlich bleiben dürften, kann man sich der suggestiven Wirkung kaum entziehen.

Geboten wird ein Blick in die Geschichte und die Mythen lateinamerikanischer Kulturen von Peru, Argentinien und Brasilien ohne Salsa-Folklorismus. Der Titel „Último Helecho“ (Letzter Farn) bezieht sich auf ein Lied der peruanischen Songwriterin Chabuca Granda, in der die Sängerin in einem Erdloch unter einem Rosenstrauch darauf wartet, „vom letzten Farn bedeckt zu werden“. In dem Stück kehrt sie jedoch aus einer bizarren Steinhöhle wieder ins Leben zurück. In einem faszinierenden Kostüm, inspiriert von indigenen Vorbildern, überwachsen von Pflanzenresten. Eine fantastische Kreatur, eine Melange aus Mensch, Pflanze und Tier.

© Nina Laisné

Die Rolle tanzt Francois Chaignaud mit einem unerschöpflichen Reservoir an Bewegungsformationen, hoch konzentriert und biegsam wie eine Pflanze im Wind. Ihm zur Seite gesellt sich die ebenso gekleidete Tänzerin und Sängerin Nadia Larcher, die den Großteil der neueren Lieder aus diversen Ländern vorträgt, teilweise im Duett, immer in Einklang mit der Bewegung und als Argentinierin mit idiomatischer Authentizität.

Eine bestrickende Stimmung wie aus fernen Zeiten durchzieht die gesamte Produktion, zu der ein sechsköpfiges Instrumentalensemble wesentlich beiträgt, das stets szenisch eingebunden ist. Drei Posaunen und einige andere Blasinstrumente, ein Bandoneon, eine Laute  und eine Trommel reichen, um die musikalische Vielfalt des lateinamerikanischen Kontinents anzudeuten. Hier treffen barocke Stücke auf moderne Cantigas. Alles so intensiv und inspiriert ausgeführt, dass die zeitlichen Unterschiede kaum spürbar werden. Alles wird in einen Sog von beeindruckender Geschlossenheit gezogen. Und das bei einer Dauer von 70 Minuten auch zeitlich so perfekt auf den Punkt gebracht, dass die Spannung nicht abreißt.

© Nina Laisné

Ein großer Erfolg, auch wenn es keine Eigenproduktion der Ruhrtriennale ist, sondern seit der Uraufführung in Wien vor einem Monat auf internationale Reise geht. Entsprechend begeistert fiel der Beifall aus.


Tanztheater: ÚLTIMO HELECHO
Deutsche Erstaufführung

PACT Zollverein Essen

Premieren-Datum: 23. August 2025

Konzeption: Nina Laisné


Jonny Greenwood: 124 Years of Reverb

Mit einem achtstündigen Marathon der Entschleunigung präsentierte sich die Evangelische Kirche am Marktplatz Katernberg im Rahmen der Ruhrtriennale zu einem Tempel innerer Einkehr. Jonny Greenwoods Komposition „124 Years of Reverb“ stellte allerdings die Geduld selbst hartgesottener Konzertgänger auf eine harte Probe. Wobei der Ein- und Zugang zum traditionsreichen „Bergmannsdom“ immer offenstand und wohl niemand damit rechnete, dass jemand die volle Distanz pausenlos durchziehen würde.

© Dennis Zimmermann

Die Holzdecke der größten, vor 124 Jahren eröffneten evangelischen Kirche des Rheinlands und vor allem die auf weiche, spätromantische Klänge ausgerichtete Sauer-Orgel boten beste Voraussetzungen für ein Klangereignis, das dem titelgebenden „reverb“ (Hall oder Echo) gerecht werden könnte.

Die Chancen nutzten Eliza McCarthy und James McVinnie am Orgeltisch auch reichlich, wobei sie sich stündlich ablösten. Übergangslos, ohne den Klangstrom auch nur eine Sekunde abreißen zu lassen. Jonny Greenwood, bekannt als Gitarrist der Rockband „Radiohead“, zeigt sich in „124 Years of Reverb“ von einer ungewohnten Seite. Ausgehend von einem einzelnen Ton, gesellen sich in minutenlangen Abständen nach und nach weitere Töne hinzu und bilden ein sich stets verdichtendes Klangkontinuum. Und das in einer so langsamen Abfolge, dass sich die berauschend irisierende Wirkung des Obertonspektrums der Pfeifen und Register voll entfalten kann, wodurch die Zuhörer in einen gefühlt endlosen Sog gezogen werden.

© Dennis Zimmermann

Dass sich Musiker dem Lärm und der Hektik des Alltags mit psychodelischen und kontemplativen Gegenentwürfen zu entziehen versuchen, ist nicht neu. Man fühlte sich ein wenig in die 70er-Jahre zurückversetzt, als Pioniere wie John Cage oder La Monte Young die Konzentration auf langgezogene Einzeltöne richteten oder gar der vollständigen Stille huldigten.

Die geräumige Kirche war über die ganze Distanz durchschnittlich zu drei Viertel gefüllt. Die Verweildauer der Besucher fiel natürlich unterschiedlich aus, wobei die Fluktuation keine verlässlichen Zahlen zulässt. Was den Wert des Projekts nicht schmälert, denn wichtiger für den Zuhörer dürfte ohnehin die individuelle Wirkung des entschleunigten Klangrauschs sein. Und die war zumindest bei fünf begeisterten Kindern und Jugendlichen aus Katernberg so groß, dass sie den Produktionsleiter mit Fragen bombardierten.


Jonny Greenwood: 124 Years of Reverb

Evangelische Kirche am Markt Katernberg

Aufführung am 24. August 2025

Orgel: Eliza McCarthy – James McVinnie


Pedro Obiera, 26. August 2025