Eigentlich – und uneigentlich – sollte man sich ja um Silvester herum die Fledermaus nur an Silvester selbst anschauen. Wieso das Theater Hof die Operette aller Operetten vier Tage vor dem Wendetag, doch nicht an ihm selbst auf den Programmzettel setzt, mag irgendwelchen Dispositionsgründen geschuldet sein – schade ist es allemal, aber schaden tut‘s nichts. Die Fledermaus bleibt auch 100 Stunden vor den Böllern die Silvester-Operette par exellence und dies umso mehr, als dass, wie Wagner in Zusammenhang mit dem Tristan geschrieben hat, nicht allein sog. mittelmäßige Vorstellungen das Stück retten können. Die Fledermaus ist (fast) unkaputtbar, was im Fall des Theater Hof nicht heißt, dass man hier besonders rücksichtsvoll auf eine sog. Provinz schauen muss – der Rezensent hat vor einigen Jahren in Wien (in Wien! Allerdings nicht im Haus am Ring, sondern in der Volksoper) die atmosphärisch bislang schwächste Fledermaus seines Lebens gesehen – nicht in Bayreuth, Coburg und Hof. Das will was heißen.
Der Prinz ist, gottseidank, auch in Hof eine Prinzessin oder anders: ein reizend androgyner Typ. Natürlich spielt Stefanie Rhaue den Orlofsky, wer sonst? Natürlich steht mit der Rhaue eine in jedem Sinne glitzernde Figur im heimlich-unheimlichen Mittelpunkt des 2. Akts – ohne ihren/seinen Mitspielern/sängern den Schneid selbstgefällig im Weg zu stehen. Die Fledermaus ist und bleibt an der Saale eine Ensembleoper, in der der Eisenstein nicht stärker und schwächer als die Adele, Adele nicht präpotenter als die Ida, Ida nicht eitler als Frau Rosalinde und Blind nicht tauber als der Dr. Falke ist. Und trotzdem glänzen sie alle im Lichte ihrer vis comica und der Musik, die ihnen Johann Strauss d.J. und sein Mitarbeiter, Arrangeur und Hilfskomponist Richard Genée geschenkt haben. Sie bilden die große Fledermaus-Familie, die durch die Eisensteinsche Wohnstube, das Palais und das Gefängnis tanzen. Die Regisseurin Isabella Gregor kommt aus Wien, sie trichtert ihren Spielern/Sängern kein falsches Kunstwienerisch ein, sondern lässt sie reden, wie sie können; nur Markus Gruber bringt als Opfer der Fledermaus einen entzückenden süddeutschen Tonfall ins böse wie belustigende Spiel ein.
Man, genauer: Frau lässt die Ratten (die vom Ballett) tanzen. Natürlich (der preußische Wiener Robert Musil hätte gesagt: „Wieso ‘natürlich‘??‘ – und er hätte Recht gehabt) – natürlich tanzen sie unter der choreographischen Direktive von Barbara Buser nicht die vorgeschriebenen fünf Tänze, die Strauss 1874 für das bewusst internationale Fest des Prinzen Orlofsky komponiert hat. Sie tanzen, natürlich, wieder, bevor die Tritsch-Tratsch-Polka als Umbaumusik und Entracte zwischen dem zweiten und dritten Akt sehr gute Dienste tut, die Schnellpolka Unter Donner und Blitz, nachdem sie Rosalindes Csárdás teils lyrisch begleitet haben. Der Connaisseur aber denkt sich: Ist doch eigentlich schön, so ein Ballett. Fehlte es in Hof, würde etwas fehlen. Es gehört dazu wie der kleine Chor, wie das Orchester, das sich unter der Leitung von David Preil nicht auf den sentimentalen Lorbeeren ausruht, die ihm Strauss mit dem Brüderlein-und-Schwesterlein-Ensemble gegeben hat – auch diese Kostbarkeit klingt wie ein zart beschwingter Wiener Walzer ins Haus. Der Klang der Hofer Symphoniker ist in dem Sinne idiomatisch, als es kein schweres symphonisches Geschütz auffährt, sondern der Komödie gibt, was der Komödie gehört: Durchsichtigkeit, Ironie, ein gespanntes Tempo und, an den richtigen Stellen, eine durchlichtete Melancholie; man weiß ja nicht, inwiefern der falschen Ungarin Rosalindes Einlage nicht doch mehr ist als eine k. u. k.-Salon-Einlage von höchsten musikalischen Graden. An solchen Stellen bleibt der für seine Depressionen bekannte Johann Strauss betörend unverbindlich – und ergreifend.
Rosalinde singt wie sonst nur der Tenor singt. Alfred repräsentiert in einem Stück, zu dessen Gesetzmäßigkeiten das Singen gehört, einen Profi des Cantablen, zu dessen Berufsprofil die Kenntnis einschlägiger Werke der Opernliteratur gehört – so auch hier. Minseok Kim darf im Schlafrock Calafs schlaflose Nacht, des Herzogs Lied von der Beweglichkeit der Frauen und ein wenig von Nemorinos Leiden singen – und, das gehört zur Tradition dieser Operette, sich im Gefängnis an Lohengrins Schwan erinnern. Rein optisch ist er, darin Orlofskys Body Guard und Lover vergleichbar, ein Typ mit einer Art Muscle-Shirt, der das Publikum – und die holde Rosalinde ein wenig juchzen lässt. Sie selbst darf ihm schließlich im sehr kleinen Schwarzen näherrücken (der Dank des männlichen und des weiblichen Betrachters geht an den Kostümbildner Götz Lanzelot Fischer). Die Ballettratten treten, dekorativ nennt man das, in den ungarischen Nationalfarben auf, als hätten sie gewusst, was am Abend auf sie zukommt. Sinnigerweise haben sie‘s gewusst, denn Dr. Falke hat der betrogenen Gattin schon im ersten Akt den Brief zugesteckt, der sie laut Libretto erst im zweiten Akt erreicht – so wird aus dem ursprünglich improvisierten Einfall ein Teil des Gesamtplans, die Rache der Fledermaus zu vollziehen. Chapeau! Und Rosalinde darf, das ist nur konsequent, am Ende mit ihrem Tenor die Bühne verlassen, um sieben gewiss recht glückliche Tage ohne ihr sehr kleines Schwarzes und ohne Alfreds/Eisensteins eleganten Schlafrock, aber mit dem Liebhaber im Bett zu verbringen. Eisenstein hat den Schaden, Versöhnung findet, trotz Champagnerlied, nicht statt – und das Lachen, das sich immer wieder über den Delinquenten ergoss, trifft ihn auch zuletzt ohne Kompromisse. Dass er dennoch nicht unsympathisch ist, dass er ein alles in allem liebenswürdiger Betrüger ist, der von Markus Gruber glänzend körperfest und stimmlich ausnehmend gut gemacht wird, steht auf einem anderen Blatt, oder anders: Die Operette hält in dieser Inszenierung die Waage zwischen wohlfeilem Spott und Menschenfreundlichkeit.
VMenschenfreundlich ist ja schon der Gesang. Inga Lisa Lehr ist eine prachtvolle Rosalinde. Ihr Sopran ist in den letzten Jahren in jene Region gewachsen, in der sich dynamische Stärke mit einem einschmeichelnden Timbre verbindet. Der glückliche Hörer kann nur hoffen, dass die gute Sängerin und Darstellerin nicht in Hof verheizt wird. Man darf’s auch von Yvonne Prentki hoffen, die eine Adele wie aus dem Bilderbuch des goldenen Fledermaus-Albums singt und spielt. Die Freude, ihrem gediegen ausschwingenden klingenden Organ bei der Arbeit zuzuhören wird durch das Vergnügen, ihr in ihren jeweiligen Outfits beim Lügen zuzuschauen, schön akzentuiert – als Kammerjungfer in rotkariertem Hemd, Jeans und Sneakers, als Olga in einem roten Teil, das eher aus einer Marilyn-Monroe-Revue als aus Rosalinde von Eisensteins Kleiderschrank zu stammen scheint.
Wann spielt eigentlich das Stück? Das Original in der Entstehungszeit, also 1874, kurz nach dem Wiener Börsenkrach, die Inszenierung laut Aussage der Regisseurin in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Setzung aber bleibt eine Behauptung. Zwischen der von Herbert Buckmiller entworfenen Wohnstube der Eisensteins mit ihren modernistischen Wandbildern im Stile Joan Miros oder Alexander Calders, dem eleganten, aber in seinen Formen reduzierten und fast abstrahierten Palaissaal mit links sich aufschwingender Treppe und mittigem Zugang samt Ausblick in einen Hinterraum sowie dem Gefängnisentrée mit obligatorischem Schrank und Schreibtisch vermittelt keine Stilepoche, noch weniger in den Kostümen, die nicht allein beim Chor an keine wirklich eindeutige Ära zwischen 1870 und heute denken lassen. Man sieht: Die Fledermaus spielt gestern und heute, in einem Kunstraum und daher stets hier und dort: weil‘s eine gute Geschichte ist, deren Charaktere auch nach bald 150 Jahren immer noch zu überzeugen wissen. Die Musik hat daran den entscheidenden Anteil, aber das Textbuch ist selbst in seiner Originalgestalt nicht schlecht (genaueres lese man in Oswald Panagls und Fritz Schweigers Buch über Die Fledermaus nach: das Libretto ist auch eine Fundgrube für Linguisten und Literaturwissenschaftler). Es wird gelind modernisiert und gekürzt, d.h.: Es entstand – es wäre in Hof vermutlich nicht u vermitteln – nichts so radikal Verändertes wie in Hans Neuenfels‘ Salzburger Aufführung oder weiland bei Leander Haußmann an der Bayerischen Staatsoper, wo auch der Frosch das Publikum so schockierte, dass sich die Intendanz gezwungen fühlte, den Text großflächig zu revidieren. „Nach einer Inszenierung von Leander Haußmann“, so hieß das dann später auf den Programmzetteln. In Hof kann so was nicht passieren. Ist das gut?
Ach, der Frosch. Eine tolle Rolle, sie bleibt schwierig. In den Ratten – nicht den Ballettratten, sondern Hauptmanns naturalistischem Meisterwerk – wird Volker Ringe demnächst den ehemaligen Theaterdirektor Hassenreuther, eine heruntergekommene Type spielen, im dritten Akt ist er der theatralische Gefängnisdiener, der zwischen Slibowitz und Schrank hin- und herschwankt. Der Frosch ist immer gut für Kabarett, für Gegenwartstexte und individuelle Einlagen. Leider ist er am Abend nicht besonders witzig; das Grundthema „Klimawandel: Licht aus“ ist an diesem Abend kaum gelächterprovozierend. Am besten sind immer noch die Klassiker, die der Operette in über 100 Jahren einer äußerst reichen Aufführungsgeschichte zugewachsen sind. „Herr Direktor, wir sind eingemauert“ schlägt alle politischen Anmerkungen zur Zeit. „Blaue Buche – Rosalinde“ ist besser als der Vergleich zwischen Sushi und Marquis, pardon: Maki, der sich beim Hofer Publikum verliert. Freilich hat es jeder Dritte-Akt-Komiker schwer, der nicht aufs Ganze geht und so brutal chargiert, dass die Erinnerung an die glücklicherweise auch medial festgehaltenen Glanz-Frösche der Operettengeschichte ausgelöscht wird. Andererseits: Wären Helmut Lohner und Josef Meinrad nicht so einzigartig gewesen, wären sie auch nicht Lohner und Meinrad gewesen. Vor diesen leider nicht zu umgehenden Vergleichen muss natürlich fast jeder Frosch kapitulieren.
So wie Die Fledermaus mit ihrer Aufführungstradition eine laufende Nachgeschichte hat, so besitzt sie eine Vorgeschichte. Denn die Rache einer Fledermaus wird ja durch eine Tat motiviert. Zur Erinnerung: Einst hatte Eisenstein seinen Freund Dr. Falke nächtens im Wald platziert, so dass dieser, am Morgen wieder nüchtern, in seinem Fledermauskostüm und im Licht des Tages nach Hause gehen musste: dem Gespött des Publikums ausgeliefert, das nur in der Nacht toleriert, was es am Tage (scheinbar) verdammt. In Hof ist‘s nicht der Wald, sondern gleich das Justizgebäude, vor dem der Mann sich wiederfindet; die letzten Takte der Ouvertüre begleiten sein kindisches Taumeln durch eine kleine Bürgergruppe, die das Benehmen des Mannes heftig komisch findet. Elias Canetti hätte die Eingangs-Szene in Masse und Macht als Beleg für die Bildung eines „Massenkristalls“ hernehmen können. Marian Müller, der als Dr. Falke leider keine Soloszene hat, spielt den Mann, von dem alles ausgeht, und er spielt ihn elegant: wie einer, der sich seines Drehbuchs aufgrund der perfekten Vorbereitung sicher sein kann.
Die Operette beginnt mit der Vorgeschichte, wenn wir in die Pause geschickt werden, mündet der Spaß in der puren Champagnerlaune des berühmten Wiener Brindisi – bevor der zweite Teil, mitten im zweiten Akt, mit einer Wiederaufnahme des Champagnerliedes anhebt und die Party inzwischen in vollem Gang ist. Zwischendurch aber durchzieht immer wieder schadenfreudiges Gelächter die Operette; am Ende wird Gabriel von Eisenstein, der wie alle außer vermutlich Orlofsky lügt, ein geschlagener, auch körperlich geknickter Mann sein. Und trotzdem ist es eine Komödie – weil man sich mit einer komischen Figur wie Dr. Blind in aller politischen Unkorrektheit über die Gebrechen eine stotternden Advokaten lustig macht. Die Musik widerspricht dem nicht. Ein Humor, der die Versehrten trifft, muss nicht unbedingt schlecht sein, zumal dann nicht, wenn Thilo Andersson das so überdreht macht, dass selbst Stotterer ihr Vergnügen an der Vorstellung des Stotterers haben könnten. Der Gefängnisdirektor Frank ist nicht lustig, wird aber durch seinen natürlichen Akzent zu einer Type – Michal Rudzinski spielt den Beamten, der erst seit drei Tagen in der Stadt ist und zuvor vielleicht seinen Dienst in einem galizischen oder böhmischen Gefängnis versah. Nun hat er sein Auge auf Ida geworfen, die mit einer kleinen, vielleicht nötigen wie allzu politisch korrekt erscheinenden Me-too-Bemerkung andeutet, was es mit der Förderung eines „angehenden Talents“ durch einen älteren Mann auf sich hat. Ida (das reimt sich auf „Aida“: natürlich „Celeste Aida“-Einsatz für den Tenor, auch in Hof) ist Elisabeth Zeiler. Sie macht ihre relativ (!) kleine, wenn auch zeitlich aufwendige Rolle mit Verve. Kein Wunder: sie wurde in Baden bei Wien geboren, wo Die Fledermaus mutmaßlich spielt… und sie ist ein integraler Bestandteil des tollen Treibens im Ringelreihen des Orlofsky-Akts.
Was wäre dieser Akt ohne den Chor? Ohne die Sänger und Sängerinnen, die zwar im Programmheft namentlich genannt werden, aber in der Regel, wenn sie nicht gerade die kleinen, aber unverzichtbaren Minisoloauftritte absolvieren, nur als Teile eines Ensembles wahrgenommen werden? Dabei wäre eine Operette ohne Chorsänger und -sängerinnen niemals nicht oder doch kaum möglich. Nach der Aufführung wurde eine von ihnen verabschiedet: Iwona Lukaszynska. Liest man ihre Biographie, kann man ermessen, was es heißt, einem Chor und einem Theater treu zu sein. Die Polin studierte in Lodz, wo sie als Solo-Opernsängerin diplomiert wurde. Die ersten zehn Jahre ihres Berufslebens diente sie an der Staatsoper Lodz als Chorsängerin mit Soloverpflichtung. Dann sang sie, bis zum 27. Dezember 2022, im Hofer Opernchor, und wenn sie vorne stand oder hinten unsichtbar agierte, trat sie als Solistin, u.a. als Dritte Dame und als Stimme von Antonias Mutter in Hoffmanns Erzählungen, auf. Von „kleinen“ Rollen kann man da nur noch bedingt sprechen, aber genauso bemerkenswert ist, dass sie in nicht weniger als 35 Jahren viele Dutzend Chorrollen gestaltete. Dem Haus wird sie als Chorgast erhalten bleiben, doch die Verabschiedung auf offener Bühne war, man versteht‘s, tränenreich. Hof ist ein „kleines“ Haus mit einem „kleinen“ Chor und wenigen Ballettmitgliedern, aber wenn sie eine – wie sagt man? – spritzige, kurzweilige, geschmackvolle und meist komische Aufführung einer Fledermaus zustande bringen, die nicht zu den schwächsten in meinem Leben mit der Fledermaus gehört, kann es stolz sein: nicht zuletzt auf jedes einzelne ihrer Mitglieder. Auch vor Silvester.
Frank Piontek, 29. Dezember 2022
„Die Fledermaus“ Johann Strauss
Theater Hof
28. Dezember 2022
Inszenierung: Isabella Gregor
Musikalische Leitung: David Preil
Hofer Symphoniker