Für die Eröffnung der neuen Scalasaison hatte sich die Direktion für den sogenannten Ur-„Boris“ entschieden, also die allererste Fassung der Oper, die Modest Musorgskij nach Alexander Puschkins Drama erstellt hatte. Die zweite, um den Polenakt erweiterte Fassung läuft unter der Bezeichnung „Original“; dazu gesellten sich später noch Umarbeitungen vom Komponisten selbst bzw. die Orchestrierungen von Rimski-Korsakow und später von Schostakowitsch. War Rimski von der falschen Voraussetzung ausgegangen, die „primitive“ Machart Musorgskijs verbessern zu müssen, so trug seine raffinierte Orchestrierung dennoch stark zur Verbreitung dieses Meisterwerks bei, während sich Schostakowitsch mit seiner Rückkehr zu „wilderen“ Tönen nicht überall durchsetzten konnte, was darauf zurückzuführen ist, dass das Publikum mit den Jahren genug Hörerfahrung gesammelt hat, um die als erstes entstandene ursprüngliche Komposition zu schätzen.
In den letzten Jahren hatte es sich eingebürgert, die Urfassung pausenlos zu spielen, doch kann eine dem Mondänen verpflichtete Veranstaltung wie die Scalaeröffnung auf eine Pause nicht verzichten. Der Vorwurf des Sakrilegs ließ sich mit dem Hinweis, die sieben Szenen liefen innerhalb von vier Teilen ab, die durchaus eine Unterbrechung vertragen, leicht entkräften.
Diese Produktion war in ihrer Gesamtheit an der Scala eine der besten, wenn nicht gar die beste, der letzten Jahre. Der Däne Kasper Holten, von 2011 bis 2017 Direktor des Londoner Royal Opera House, hatte im Mailänder Haus bereits 2016 mit der Inszenierung von Brittens „The turn of the screw“ starken Eindruck gemacht. Nun gelang ihm ein großer Wurf, der die Geschichte von Boris, dem Mörder des kleinen Zarewitsch, und seinen Gewissensqualen überaus spannend erzählte (nur dass Schujskij mit einem Dolchstoß in den Rücken des Zaren diesen endgültig dem Tod überantwortet, war überflüssig, denn Musik und szenische Interpretation zeigten deutlich, wie auch sich steigernder Wahnsinn jemanden zu Tode bringen kann). Ausnahmsweise war die Einführung einer im Libretto nicht vorhandenen Figur nicht störend, denn die wiederholte Erscheinung des blutbefleckten Zarewitsch war für Boris keine Einbildung, sondern er – aber eben nur er – sah ihn körperlich vor sich. Unterstützt wurde Holten vom genialen Bühnenbild seiner ständigen Mitarbeiterin, der Engländerin Es Devlin: Zunächst beherrschten die fortschreitenden Seiten der Chronik des Mönchs Pimen die Bühne, die sich im Handumdrehen in den Schauplatz der Krönung des Zaren verwandeln ließ und ebenso schnell, nur durch Hinzufügung eines Gitters, zur Schenke an der Grenze zu Litauen oder in die Privatgemächer des Zaren. An dieser technisch hervorragenden Lösung hatte auch die Beleuchtung von Jonas Boegh ihren Anteil, ebenso wie das sparsam eingesetzte Video von Luke Halls (verblüffend, wie in einer Projektion Grigorij, der falsche Dimitrij, den Weg nach Litauen findet). Die Kostüme von Ida Marie Ellekilde waren prunkvoll und pompös für die Krönungsszene, aber von heutiger bzw. zeitloser Eleganz für den privaten Zaren und seine Kinder, ihrem Rang entsprechend für die anderen Figuren. (Nur der Damenchor im ersten Bild schien mir in seiner sauberen roten Einheitskleidung nicht das arme, zerlumpte Bauernvolk zu repräsentieren).
Von der musikalischen Umsetzung kann nur in höchsten Tönen berichtet werden, denn Riccardo Chailly schien mit Musorgskijs Musik geradezu verwachsen, sie schien direkt aus ihm zu kommen, und das Orchester des Hauses bot eine absolute Höchstleistung. Das gilt auch für den von Alberto Malazzi einstudierten Chor, dessen Präzision und Intensität mit seiner Stimmkraft wetteiferten.In der Titelrolle erlebte Ildar Abdrazakov einen verdienten persönlichen Triumph. Man sah ihm am Schluss bei seinem ersten Vorhang an, dass er sich bis zur Erschöpfung in die Figur des Boris hineinversetzt hatte. Sein edler Bassbariton gehorchte in jedem Augenblick und brachte die zarten Töne der Liebe zu seinen Kindern ebenso zum Ausdruck, wie herrische Befehle und das langsame Abgleiten in den Wahnsinn. Gleich nach ihm muss der Pimen von Ain Anger genannt werden, der seine lange Erzählung mit unmittelbarer Spannung vorbrachte und mit einem Bass glänzte, der in solchem Repertoire besonders gut zur Geltung kommt. Als Boris‘ Sohn Fëdor gefiel Lilly Joerstad nicht nur mit schönem Mezzo, sondern auch mit sehr lebhaftem Spiel. Seine Schwester Ksenija sang Anna Denisova mit zartem Sopran. Dmitry Golovnin überzeugte mit neurotischem Spiel und durchschlagendem Tenor als falscher Thronprätendent Grigorij. Unter den für praktisch alle Rollen vertretenen Muttersprachlern oder zumindest slawischer Herkunft (auch Joerstad ist trotz ihres skandinavischen Namens in Russland geboren) glänzte Norbert Ernst als schleimig-hinterhältiger Schujskij, der mit jedem seiner Auftritte den Zaren in Angst und Schrecken versetzte. Starken Eindruck hinterließen Stanislav Trofimov als Warlaam mit seiner Ballade im Schenkenbild und Alexander Kravets als Missail: Zwei Bettelmönche, die zwischen Besäufnis und Angst vor den Wachen lebten. Der Bariton Alexey Markov (Scelkalov) fiel durch besondere Stimmschönheit auf. Die dunklen Stimmen von Agnieszka Rehlis (Amme der Ksenija) und Maria Barakowa (Schenkenwirtin) ließen bedauern, dass ihre Rollen nicht größer sind. Berührend die Klage des „Narren in Gott“ Yaroslav Abaimov, obwohl sein Tenor noch etwas heller und klagender klingen hätte dürfen. In Minirollen ergänzten Oleg Budaratskiv, Roman Asthakov und Vassily Solodkyy.
Eva Pleus, 29. Dezember 2022
„Boris Godunow“ Modest Musorgskij
Mailand / Teatro alla Scala
Premiere am 7. Dezember 2022 / besuchte Vorstellung am 13. Dezember 2022
Inszenierung: Kasper Holten
Musikalische Leitung: Riccardo Chailly
Orchestra Teatro alla Scala