Premiere am 20.11.2021
Junges Staatstheater Meiningen
Nach dem gleichnamigen Film von Václav Vorlíček und František Pavlíček
Musik von Karel Svoboda
Wie kriegt man Kinder und junge Leute ins Theater? Man nehme ein Aschenbrödel, drei Haselnüsse, einen Prinzen und zauberhafte Musik… Ganz so einfach machen es sich Regisseurin Gabriela Gillert und Bühnenbildner Helge Ullmann nicht. Natürlich orientieren sie sich an der Filmvorlage und belassen die Schauplätze Winterwald, Hofgut und Schloss, aber schon bei den Figuren geht diese kindgerechte Inszenierung ganz eigene Wege. Herrlich überzeichnet bedienen die einen ein comedyerfahrenes Publikum, das begeistert auf jede ihrer Schrullen, Tollpatschigkeiten, Mimik und Gestik reagiert, während sie in Aschenbrödel ein selbstbewusstes junges Mädchen erleben, das Natürlichkeit und Optimismus ausstrahlt. Die Geräuschkulisse zu Beginn im vollbesetzten Haus ist gewaltig, doch kaum erklingen die ersten Töne, der Vorhang hebt sich, der Blick fällt auf einen imaginären Winterwald, Lichtertäubchen schweben am Himmel, ein Hase fährt vorbei und schon ist es mucksmäuschenstill. In der Küche auf dem Hofgut, auf dem Aschenbrödel mit seiner bösen Stiefmutter und deren gemeinen Tochter Dorchen lebt, geht es weniger still zu.
Der König wird zu einem Besuch erwartet, es wird gebacken, gebraten und geschimpft und niemand kann es der strengen Hausherrin recht machen. Aschenbrödel entflieht trotzdem für eine kurze Zeit mit seinem geliebten Hengst Nikolaus in den Winterwald und trifft dort auf den Prinzen mit seinem Präzeptor, der ihm wenig erfolgreich die Gepflogenheiten eines zukünftigen Königs beizubringen versucht. Das Mädchen verulkt den jungen Mann, spielt Verstecken mit ihm und verschwindet. Inzwischen ist der König in einer rosa Kutsche eingetroffen und nach seiner überdeutlichen Mimik kein bisschen von dem affektierten Getue der Damen angetan. Trotzdem ergattern sie eine Einladung zum Ball im Schloss. Diener Vinzek wird deshalb für Besorgungen fortgeschickt und bringt auch Aschenbrödel, das nicht zum Ball darf, eine Kleinigkeit mit: die drei Haselnüsse. Dank der Hauseule Rosalie entfaltet die erste Nuss ihre Magie und ein Jagddress fällt vom Himmel. Wieder trifft das Mädchen, nun in Jägergestalt, im Wald auf den Prinzen, imponiert ihm durch Treffsicherheit und Schlagfertigkeit und ist zu seinem Bedauern gleich wieder verschwunden. Inzwischen kleiden sich die Damen für den Hofball, lassen sich von Aschenbrödel bedienen und bürden ihm noch mehr gemeine Arbeit auf, nämlich Mais und Linsen zu sortieren.
Lichtertäubchen helfen im Nu und Eule Rosalie lässt den Zauber der zweiten Haselnuss in Form eines Ballkleides samt Schuhen vom Himmel schneien. Präzeptor und Zeremonienmeister gleichermaßen lässt Stück für Stück den Palast entstehen, die Kulisse für den königlichen Ball, bei dem der Prinz als zukünftiger Herrscher seine Braut erwählen soll. Die Zuschauer werden angehalten, durch Gesten der Ehrerbietung dem König die üblichen Ovationen zu erweisen – und tatsächlich machen alle mit. Selbstverständlich gelten im Schloss auch alle Regeln des AHA-Konzepts: Man wird auf Masken und Abstand hingewiesen. Gequält und angewidert betrachtet der Prinz die schrill-hässlichen und grauenvoll aufgedonnerten Heiratskandidatinnen, zum Teil Männer in phantastischen Roben und will schon flüchten, als Aschenbrödel seinen Wow-Auftritt im Tausendglitzerkleid hat. Hingerissen macht er ihm sofort einen Heiratsantrag, aber erst wenn er ein Rätsel gelöst hat, würde das Mädchen ihn nehmen. Nun verliert es natürlich bei der überstürzten Flucht den Schuh und irrt im Wald umher auf der Suche nach Pferd Nikolaus.
Der Prinz verfolgt seine Traumfrau und die Kinder im Publikum dirigieren ihn lauthals, fiebern mit. Stiefmutter und Dorchen haben nur noch einen kurzen Auftritt und versinken, nachdem der Schuh nicht passt, in einem Schneeloch. Ein letzter Auftritt der Eule lässt die Magie der dritten Haselnuss wirken: Ein Hochzeitskleid erscheint. Nicht er holt oder findet seine Braut, sie selbst erscheint in phantastischer Lichterrobe im Schloss, um sich ihren Prinzen zu nehmen, der nun das Rätsel lösen kann. Happyend mit Fanfaren, Blütenblätterregen, Pferd und Schnutenkuss auf Abstand lösen ein Applausgeschrei im Saal aus. Nach 70 Minuten Anspannung und Mitfiebern hält es kleine und große Kinder nicht mehr auf den Sitzen.
Carola Witte als Aschenbrödel verkörpert temperamentvoll, witzig und frech ein junges Mädchen, das trotz widriger Umstände Freude empfindet. Hengst Nikolaus, die Eule Rosalie, Täubchen und Eichhörnchen sind ihm ans Herz gewachsen und treue Gefährten. Intuitiv spürt die junge Frau, dass sie ihr Leben nach ihren Wünschen gestalten kann. Selbst ist die Frau, das wird der Prinz Yannick Fischer schon bald zu spüren bekommen. Richtig gut mimt er den hübschen, aber noch unreifen Thronfolger, dessen Mimik augenfällig signalisiert: „Kein Bock auf königliche Pflichten oder hässliche Bräute“. Weil er etwas phlegmatisch und unbeholfen wirkt, ist seine Zukünftige wohl genau die Richtige für ihn. Im Wesen ist er dem Vater, Matthias Herold, gar nicht so unähnlich. Kugelrund mit überdimensionalem Po und Bauch verkörpert er einen gutmütigen und sympathischen Mann, der durchaus auch ein Herz für das Personal hat. Seine Späße und Possen begeistern alle. Christine Zart ist die Rolle der bösen Stiefmutter auf den Leib geschrieben. Grandios verkörpert sie bis zum letzten Auftritt diese dominante, herrschsüchtige und eiskalte Person.
Schon die strenge Frisur, die furchteinflößende Mimik und ihr menschenverachtendes Verhalten wirken. Marie-Sophie Weidinger als Tochter Dorchen übertreibt als affektiertes Echo der Mutter ihr zickiges und albernes Verhalten ins Unerträgliche und tritt in jedes Fettnäpfchen. Zu den Guten zählen der treue, urige Hofknecht Vinzek im Wurzelsepplook und der übereifrige, pflichtbewusste Präzeptor in Staatsuniform. Hans-Joachim Rodewald verkörpert in einer Doppelrolle diese unterschiedlichen Charaktere sehr gelungen. Den Zuschauern fiel bestimmt nicht auf, dass es sich um ein und denselben Schauspieler handelt. Und nun zu dem wundervollen Pferd, in dem Ibrahim Bajo und Emil Schwarz stecken, die in völliger Harmonie der Bewegungen die Illusion eines echten Tiers erzeugen. Es wirkt täuschend echt und hat so eine intensive Ausstrahlung, dass es einen rührt.
Das Orchester der Meininger Hofkapelle unter der Leitung von Peter Leipold hat die zauberhafte Musik von Karel Svoboda im Vorfeld eingespielt. In jeder Szene untermalt oder führt, romantisiert oder dramatisiert sie situativ die Geschehnisse. Niemand wird sich der Magie dieser Melodien entziehen können. Die Idee, das Programmheft als eine Art Bilderbuch mit wenig Text und einer CD zum Nachhören zu gestalten, ist etwas Besonderes. Die Tradition in Meiningen, in der Weihnachtszeit ein Märchen aufzuführen, alte Stoffe neu, mit anderen Schwerpunkten zu inszenieren, hat sich wieder bewährt. Die Eindrücke werden bleiben, nachhallen und die Liebe zum Theater wecken. Wenn Eltern und Großeltern, Lehrerinnen und Lehrer den Kindern die Chance geben, Theaterkultur zu erleben, werden sie „infiziert“ und inspiriert. Intendant Jens Neundorff von Enzberg verwirklicht mit dem „Jungen Staatstheater“ ein tiefes Anliegen, junges Publikum in ihrer Lebenswelt abzuholen, ihnen Produktionen anzubieten, die nicht nur bloße Unterhaltung, sondern weit mehr bieten.
Inge Kutsche, 23.11.2021
Fotos: Marie Liebig, Christina Iberl