Klangrausch aus dem Graben
Vorstellung am 16.04.2014 (Premiere am 12.04.2014)
Manon im besetzten Frankreich; aber kein Mut zu stringenter Inszenierung
Nach seinen von Teilerfolgen gekrönten ersten Gehversuchen in der Oper gelang Puccini schon vor seinen „Großen Vier“ (Bohème, Tosca, Butterfly, Turandot – übrigens alles Opern, in denen maßstabsetzende Frauenfiguren gezeichnet werden) mit Manon Lescaut ein großer Erfolg, der die vorher erschienen auf dem gleichen Stoff basierenden Musiktheaterwerke relativierte oder gar bedeutungslos werden ließ. Die Vorlage ist Antoine-François („Abbé“) Prévosts 1731 erschienener und 1753 umgearbeiteter Roman L’Histoire du chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, der starke autobiographische Elemente zeigt. Eine Gruppe von acht Verfassern (Komponist eingeschlossen) nahm sich das Libretto von Massenets Manon her und zimmerte daraus den Text für Puccinis neue Oper, die 1893 in Turin uraufgeführt wurde: vier zeitlich nicht zusammenhängende Akte an vier verschiedenen Orten der Handlung; Aristoteles hat sich im Grabe herumgedreht… Obwohl Prévost meistens auf der Flucht von Häschern und Gläubigern in Europa weit herumgekommen ist, sind seine Kenntnisse der neuen Welt wohl sehr bescheiden geblieben. Denn bei den Sträflingskolonien in den damaligen französischen Kolonien in Amerika (1763 verloren) ab und gibt es keine Wüsten. So fußt sowohl der Schluss der Massenet- als auch der Puccini-Oper auf einem „se non è vero e ben trovato“, obwohl Puccini immer so viel Wert auf Realismus gelegt hat. (Wikipedia: Louisiana liegt an der Mündung des Mississippi River in den Golf von Mexiko und hat eine Größe von 134.264 km², davon sind 21.440 km² Gewässerflächen.)
Der Regisseur Richard Eyre hätte mit seinem Regiekonzept diesen dem Stoff seit Prévosts Zeiten anhängenden Fehler beheben können. Er verlegt die Handlung der Oper ins besetzte Frankreich im Zweiten Weltkrieg und kann damit erst einmal punkten. Denn er bringt dadurch in die an sich schwache Dramaturgie der Manon Lescaut mit ihren vier episodenhaft nebeneinanderstehenden Akten so viele neue und interessante Aspekte und Gestaltungsmöglichkeiten, dass deren Schwäche in den Hintergrund treten könnte, wenn Eyre sein Konzept nur konsequent und mutig (!!!) durchgezogen hätte. Kleinere Reibungen am Text können hingenommen werden: ob z. B. die Fahrgäste mit einer Postkutsche oder mit einem Zug aus Arras ankommen, ist für die Handlung nicht bedeutungsvoll. Und so beginnt es vielversprechend und stringent.
Eva-Maria Westbroek (Manon Lescaut); Massimo Giordano (Des Grieux); Foto: Monika Rittershaus
Rob Hobwell hat ein riesiges, detailgenaues und aussagefähiges Bühnenbild gebaut; anders als sonst meist im Festspielhaus mit seiner begrenzten Bühnentechnik mal kein Einheitsbühnenbild, sondern jeweils fortentwickelt, weshalb auch zwei Umbaupausen und eine Lichtpause benötigt wurden, was die Aufführungszeit auf drei Stunden brachte. Im ersten, dem Amiens-Akt sieht man am Bahnhof von Amiens rechts eine prächtige Hotelfassade der belle époque mit Balkon vor weiteren solcher Fassaden im Hintergrund, die aber leider im Ersten Weltkrieg bei den Kämpfen um die Stadt beschädigt wurden und mit Putz geflicktsind. Auf der linken Seite befindet sich zum Bahnhof ansteigend eine große runde Treppe, auf welcher eine Kriegszerstörungslücke durch eine neoklassizistische Säulenreihenarchitektur der 20er Jahre geschlossen wurde. Oben auf dem Bahnhof patrouillieren Wehrmachtssoldaten; unten vergnügen sich in einem Bistro die Studenten und reiben sich an deutschen Soldaten in Ausgehuniform. Kaum sattsehen kann sich an diesem prächtigen Bühnenbild, wenngleich es schon bald seinen Nachteil präsentiert: durch die vielen Aufbauten geht es eng und geradezu schwierig auf den großen steilen Treppenstufen zu. (Möglicherweise hat dies sogar zu einem leichten Probenunfall geführt.)
Massimo Giordano (Des Grieux); Eva-Maria Westbroek (Manon Lescaut); Foto: Jochen Klenk
Im zweiten Akt sieht man einen großen Salon mit Doppelbett, Schminktisch und einer lang nach oben aufsteigenden Treppe im prächtigen Hause des Geronte de Ravoir, in welchem auch Wehrmachtsoffiziere aus- und eingehen. Geronte ist kein Steuerpächter, sondern ein Kollaborateur; vielleicht sogar Louis Renault (der nach der Befreiung 1944 vermutlich durch Folterung zu Tode gekommen ist)? Das Personentableau gewinnt kohärentes Profil: Des Grieux als Halbweltler und Spieler mit Kontakten zur Résistance; Lescaux als umtriebiger Vermittler, auf allen Seiten Provisionen nehmend; seine Schwester Manon von der höheren Tochter schnell zur femme fatale entwickelt: Geld und Sex zählen; Geronte als rachsüchtiger einflussreicher Großkollaborateur, dem die Deutsche gern mal ein Gefallen tun und mit der Verhaftung der Manon Willkür vor Recht ergehen lassen. Soweit passt alles.
Dann aber befindet man sich plötzlich doch in Le Havre, Manon und die Prostituierten werden nach Amerika in die Strafkolonie Louisiana eingeschifft. Das einzige, was an dieser Szene noch überzeugen kann, ist wieder das gewaltige Bühnenbild mit Schiffsbug, Landungsbrücken und darunter gelegenen vergitterten Gefängniszellen. Erneut kontrollieren Wehrmachtsgefreite im Stahlhelm die Szene. Aber wohin fährt bitte das Schiff? Von Le Havre nach Amerika? 1942? Wäre die Regie hier konsequent gewesen, hätten französische Kleinkollaborateure die Mädchen in ein Arbeitslager gebracht, wo sie für die Deutschen hätten Granaten drehen können. Vielleicht entspricht eine solche logische Fortsetzung der Geschichte nicht den Spielregeln von politischer Korrektheit; vielleicht will man den zukünftigen Zuschauern der koproduzierenden Metropolitan Opera auch nur mal wieder „Nazis“ vorführen. Nun aber legt das Schiff mit Des Grieux als Schiffsjunge ab … und kommt in Paris an; denn dort in den Trümmern des mittlerweile zerbombten Palais von Geronte de Ravoir verdursten Manon und Des Grieux in gemeinsamer Liebe. Regietheater auf Amerikanisch! Schade dass die zweite Hälfte der Inszenierung dermaßen verkorkst ist. Durchaus passend zu den Intentionen der Regie die sehr kenntnisreich gestalteten Kostüme von Fotini Dimou, die sich vor allem bei der Kostümierung des Chors sehr viel Mühe mit den vielen Individuen gegeben hat.
Eva-Maria Westbroek (Manon Lescaut); Foto: Jochen Klenk
Musikalisch haben die enormen szenischen Ungereimtheiten selbst die Berliner Philharmoniker im Graben unter der Leitung von Simon Rattle nicht ausbügeln können, denn man sitzt für gewöhnlich nicht mit geschlossenen Augen im Theater. Anders als im Vorjahr, als Rattle mit den Philharmonikern gar keinen rechten Zugang zur Zauberflöte fand, hinterließ er diesmal in seinem Debut mit Manon Lescaut einen sehr starken Eindruck. In seiner Partitur hat Puccini sehr wohl noch im Einflussbereich Verdis Kantilenen voller Italianità geschrieben, aber auch großorchestrale symphonische Musik im Dunstkreis des auch in Italien aufgekommenen Wagner-Kults. So ist ein ganz wesentlicher Teil der musikalischen Wirkung der Oper von der Bühne in den Graben gewandert, und das macht die Musik natürlich für Rattle und einen Edelklangkörper der Sinfonik wie die Berliner interessant, die sich voll in die Partitur eingebracht haben. Rattle zauberte mit der Instrumentation, mit der Agogik, reizte die Dynamik voll aus und erzeugte stellenweise einen betörenden Klangrausch. Auch bei „Attacke“ bleibt das Orchester geschmeidig und weiß auch und gerade in den Intermezzi auch sehr feinteilig und filigran zu überzeugen. Andrerseits gefällt es Rattle, die Puccini-Orchestermusik sehr nahe an das heranzuführen, was man gemeinhin „süßlich“ nennt, z.B. wenn er angeschleifte Streicherpassagen musizieren lässt. Aber es ist eben Puccini, und der wurde in allen Facetten orchestral voll ausgelotet und konnte hypnotische Wirkung entfalten.
Massimo Giordano (Des Grieux); Eva-Maria Westbroek (Manon Lescaut); Foto: Jochen Klenk
Nun, dann ist aber auch noch das musikalische Geschehen auf der Bühne da. Und die scheint für Rattle doch nur die zweite Geige zu spielen. Denn sängerfreundlich war das nicht immer, was er veranstaltete, und manchmal lief das auch spürbar auseinander. Soweit das den Chor betrifft (Philharmonia Chor Wien, Einstudierung Walter Zeh) mag das auch den hohen Anforderungen an Orientierung und Bewegung auf der komplexen Bühne geschuldet sein. Dafür wird der Zuhörer aber auch mit einigen sehr feinen Chorpassagen belohnt und vor allem natürlich mit dem großen Chortableau am Ende des dritten Akts, wo Klangschönheit und Klangstärke optimal zusammen finden.
Tod durch Verdursten; Foto: Monika Rittershaus
Für die vier Hauptrollen hat das Festspielhaus durchschlagskräftige Solisten engagiert. Aber ein echtes Puccini-Ensemble wurde daraus nicht geformt. Natürlich geht „Kraft ohne Mühe“ in einem so großen Theatersaal wie dem in Baden-Baden vor. Aber die Besetzung der Manon mit einer Vertreterin des deutschen jugendlich-dramatischen Fachs wie Eva-Maria Westbroek ist schon gewagt. Ihre Rolle im ersten Akt als Mädchen konnte man ihr weder stimmlich noch darstellerisch abnehmen, zumal sie sehr zum Tremolieren neigte. Das bekam sie in der Folge allerdings immer besser unter Kontrolle, so dass ihr sowohl als femme fatale im Luxusleben wie auch in der Sterbeszene doch noch große Szenen gelangen. Mit Massimo Giordano war ein Des Grieux besetzt, der zwar noch nicht über die volle Durchschlagsraft eines Puccini-Helden verfügt, aber seinen klaren, bronzenen Tenor über den ganzen Stimmumfang gut zur Geltung brachte, gut mit seinen Kräften umging und nie übermäßig zu forcieren brauchte. Man kann ihm ein gelungenes Rollendebut attestieren. Den Geronte de Ravoir sang Liang Li mit abgrundtiefem, sehr kräftigem Bass bei bester Artikulation; aber er müsste an seinen etwas monochromen muttersprachlich gefärbten Vokaltönungen noch arbeiten. Mit Lester Lynch war ein Lescaut besetzt, der über eine überaus kräftige und runde Tiefe verfügt, aber im höher gelegenen Parlando etwas schwankte. Dass er als Farbiger mit einer weißen Schwester zusammen auftrat, stört heute nicht mehr besonders (wo man auch einen weißen Otello nicht mehr zwingend einrußt); aber im Kontext eines Nazi-besetzten Frankreichs hätte ein farbiges Paar noch einen besonderen Reiz ausgestrahlt. Bogdan Mihai sang den Studenten Edmondo mit feinem beweglich-klaren Tenor; diese Stimme hätte aber in ein frühklassisches Stück und in ein Rokoko-Theater gehört. Rattle deckte ihn gnadenlos zu. Die beste Solistin hatte leider den kürzesten Part: es war Magdalena Kožená in der Rolle des Sängers mit ihrem kurzen samtig-weichen Vortrag in der Hosenrolle. Die Inszenierung ist mit der Metropolitan Opera koproduziert und wird in der nächsten Spielzeit dort herauskommen. Dieser Abend wurde zeitversetzt auf arte im Fernsehen übertragen. Der Beifall im Festspielhaus fiel sehr kräftig, aber ziemlich kurz aus.
Manfred Langer, 18.04.2014