Premiere am 03.06.2017
Eng verknüpfte Frauenschicksale
Bei der letzten Opernpremiere im Großen Haus des Stadttheaters hat Intendant Ulrich Mokrusch persönlich die Regie übernommen. Wie schon im letzten Jahr mit „Der goldene Drache“ von Peter Eötvös gelingt es ihm wieder, diesmal mit „Vanessa“ von Samuel Barber, einen glanzvollen Schlusspunkt für die laufende Spielzeit zu setzen.
„Vanessa“ wurde 1958 an der Metropolitan Opera uraufgeführt und ist für lange Zeit etwas in Vergessenheit geraten. Aber in den letzten Jahren wurde das Werk von einigen Häusern wiederentdeckt. In Bremerhaven wird es erstmalig gespielt. Eine glückliche Wahl, denn „Vanessa“ ist ein Werk, das mit einer teils sinnlichen, teils feingliedrigen Musik besticht, die nicht „neutönerisch“ daherkommt, sondern viel Melodie und einen manchmal an Richard Strauss oder an Filmmusik erinnernden rauschhaften Orchesterklang enthält. Und die Handlung (auf ein Libretto von Gian Carlo Menotti nach einer Vorlage von Tania Blixen) fächert subtil die seelischen Zustände von zwei Frauen auf, deren Schicksale eng miteinander verknüpft sind.
Vanessa hat zwanzig Jahre auf die Rückkehr ihres Geliebten Anatol gewartet. Aber es kommt dessen leichtlebiger Sohn, der auch den Namen Anatol trägt. Zwar verführt der gleich in der ersten Nacht Vanessas Nichte Erika und schwängert sie, aber Vanessa hat sich auch in die jugendliche „Neuauflage“ ihres damaligen Geliebten verliebt. Anatol entscheidet sich für Vanessa. Beide ziehen nach Paris und lassen Erika zurück. Nun lässt die alle Spiegel verhüllen und wartet wie zuvor Vanessa.
Ulrich Mokrusch ist eine durch und durch feinsinnige Inszenierung gelungen, bei der jede seelische Regung der Figuren ihren entsprechenden Ausdruck findet. Vanessa verwandelt sich von der verbitterten, etwas verhärmten Person zu einer geradezu vor Jugendlichkeit strotzender Frau, während Erika die gegenläufige Entwicklung vollzieht. Vanessas Mutter, die alte Baronin (Katherine Marriot), schweigt meistens zum Geschehen. Sie wirkt durch ihre bloße Präsenz und erinnert an die Küsterin in Janáčeks „Jenufa“. Anatol ist der oberflächliche Jüngling, der alles im Leben mitnimmt, was er kriegen kann. Den alten Doktor, ein langjähriger Freund der Familie, zeichnet Mokrusch als eine Figur mit viel Herz und komödiantischem Charme, die auch in angetrunkenem Zustand einfach liebenswert ist.
Äußerst gelungen ist die Ausstattung: Timo Dentler und Okarina Peter zeichnen für Bühne und Kostüme verantwortlich. Die Spielfläche ist ein schneebedecktes Zimmer mit einem riesigen, in einen Goldrahmen gefassten Spiegel im Hintergrund, dazu eine Standuhr, die nicht mehr schlägt, sowie eine Lagerstatt für die Baronin. Oft fallen Schneeflocken. Die Lichtstimmungen wechseln zwischen poetischer Verklärung und eisiger Kälte. Es ist eine Inszenierung, die in ihrer Gesamtwirkung höchsten ästhetischen Ansprüchen gerecht wird.
Auch die sängerischen Leistungen sind durchweg begeisternd. Allen voran kann Judith Kuhn mit raumgreifendem, leidenschaftlich geführtem Sopran als Vanessa überzeugen. Auch Carolin Löffler gibt mit schlankem Mezzo ein eindringliches Porträt der Erika und bezaubert mit der melancholischen Arie „Must the winter come so soon“. Tobias Haaks singt den Anatol mit tenoraler Strahlkraft und Vikrant Subramanian liefert als Doktor eine bis ins Detail ausgefeilte Charakterstudie. In weiteren Rollen sind Róbert Tóth als Majordomus, Lukas Baranowski und Michaela Weintritt als Bedienstete sowie Daniel Dimitrov als Pfarrer zu erleben. Der von Anna Milukova einstudierte Chor erfüllt seine vergleichsweise kleine Aufgabe bestens.
Thomas Kalb am Pult des Philharmonischen Orchesters Bremerhaven schwelgt in der süffigen Musik und unterstreicht in vielen instrumentalen Details deren Qualität. Er ist ein feinsinniger Begleiter für die Sänger und gibt den vielen, rein orchestralen Passagen besonderes Gewicht. Eine Produktion, die sich niemand entgehen lassen sollte!
Wolfgang Denker, 04.06.2017
Fotos von Hilka Baumann und Heiko Sandelmann