Darmstadt: „Odyssee“

Luigi Nono / Claudio Monteverdi

Premiere am 25.09.2014

Funktioniert die Musik-Klammer über 350 Jahre rückwärts ?

Unter dem Titel ODYSSEE bringt das Staatstheater als erste Premiere der Spielzeit unter dem neuen Intendanten Karsten Wiegand eine Art Doppelabend auf die Bühne: Luigi Nonos „Non hay caminos, hay que caminar“ (Es gibt keine Wege, man muss nur gehen) zusammen mit „Il ritorno d’Ulisse in patria“ von Claudio Monteverdi. Nono als Prolog zu einem 350 Jahre älteren Werk. Was die beiden Komponisten verbindet, ist zunächst äußerlicher Natur: Monteverdi (1567-1643) hat die zweite Hälfte seiner Schaffenszeit als Kapellmeister an San Marco in Venedig verbracht, der Geburts- und Todesstadt von Luigi Nono (1924- 1990). Der räumlich inszenierte Klang von Musikaufführungen wie in einer Kathedrale soll den Werken beider Meister zu eigen sein. Dass aber, wie in der Einführungsveranstaltung vom Dirigenten George Petrou und dem neuen Darmstädter Operndirektor Berthold Schneider betont, sich an diesem Abend die Musik Monteverdis zwanglos aus der Nonos entwickelt, ist nur eine gewagte Behauptung.

George Petrou (Foto: Ilias Sakalak)

Nono und seine Musik haben einen konkreten historischen Bezug zu Darmstadt, da er zur ersten Generation junger Komponisten gehörte, die zu „Internationale Ferienkurse für Neue Musik“ dort gepilgert sind, in denen nach dem Krieg die Neuerer der Musik (auch Stockhausen und Boulez unter der Leitung namhafter Lehrer) die Stagnation der Musikentwicklung in der Nazi-Zeit überwinden wollten. So legendär und viel zitiert diese Aufbruchszeiten noch heute sind, so selten gespielt sind die Stücke der Protagonisten damals und heute, was zum Teil auch an rein technischen Schwierigkeiten liegt. Hier konnte nun das Staatstheater mit seinem räumlichen Arrangement des Doppelabends einen Beitrag zur Nono-Rezepzion leisten. „Non hay caminos, hay que caminar“, Nonos letztes Werk für großes Orchester ist für ein knapp 70-köpfiges Orchester geschrieben, das in sieben Gruppen um das Publikum herum aufgestellt ist. Die größte Einheit bildet eine Gruppe aus etwa dreißig Streichern, die restlichen sechs Gruppen bestehen jeweils aus Streichern mit Bläsern oder Schlagwerk. In einem „gemeinen“ Konzertsaal kann man das schlecht aufführen, schon eher in einer Kathedrale, wenn das Publikum z.B. im Vierungsraum sitzt und für die Musikergruppen die Emporen mitgenutzt werden. Aber, wie in Darmstadt gezeigt, geht es auch auf der Bühne eines großen Theaters, wenn man das Publikum dort in der Mitte Platz nehmen lässt, die Hauptgruppe der Streicher (mit dem Dirigenten) über den Graben setzt und die sechs weiteren Musikergruppen an den Bühnenrändern platziert. In der Mitte steht (und geht) dann das Publikum. Zwanzig Minuten dauert das Stück. Man wird sich schnell bewusst, dass man noch weniger als ruhig sitzen ruhig stehen kann; daher luden die Veranstalter das Publikum, das man durch funktionale Seitengänge auf die Bühne leitete (das war keine Odyssee!), auch auf der Bühne zum Herumgehen ein, caminar eben. Da konnte man mal zu der einen, mal zu der anderen Musikergruppe gehen und schauen. Manche Zuschauer taten das lautlos, andere – vor allem stöckelnde Damen – auch geräuschvoll und trugen somit nicht komponierte Schlagwerk-Laute zum Konzert bei. Eine Dame hatte sich auch die Hochhackigen ausgezogen. Hier wurde das Konzert zum „Event“, denn im Stehen und Gehen kann man den Zusammenhang der Musik nichtwahrnehmen.

Der Orchesterklang ist streichergetragen und spielt sich auf G in verschiedenen Oktaven ab; ein Ton, vom dem nach oben und unten nur in Kleinstintervallen bis hin zur Schwebung abgewichen wurde, teilweise überlagert von Flageolett-Tönen der Violinen, ab- und anschwellend von den Bläsern an verschiedenen Stellen der Peripherie aufgenommen und unterbrochen von teilweise sehr harten Schlägen der Perkussion, die in bewundernswerter Präzision kamen. Sieben Monitore standen den Musikern zur Beachtung des Dirigenten zur Verfügung.

Thomas Mehnert (Tempo)

Nono hat eine „Inszenierung“ seiner Instrumentalmusik per Vermächtnis untersagt: Dieses Verbot wurde nicht durchbrochen, da ja das Publikum inszeniert wurde. Aber schon während der Nono-Musik infiltrierten die Sänger des Monteverdi-Prologs die Bühne: Amore, Fortuna, Fragilità und Tempo gelangten in fast wörtlich zu nehmende Tuchfühlung zum immer noch caminierenden Publikum. Der Dirigent wechselte an den hinteren Bühnenrand zur zweitstärksten Musikergruppe, die sich inzwischen mit Barock- Spezialisten komplettiert hatte. Und los ging die Oper. Bis zur Mitte des ersten Akts traten die Sänger in ihren Kostümen der Menge von über 200 Zuschauern auf. Wie groß doch so eine Bühne ist; kaum kleiner als der Saal. Was sich die Solisten zu so einer Durchmischung gedacht haben, wird sich wohl keiner zu sagen getraut haben. Inszeniert wurde aber zu diesem frühen Teil der Oper nur wenig; die Allegorien wurden mit Zügen teilweise etwas angehoben; dem irdischen Personal öffnete das Publikum bereitwillig die vorgesehenen Schreitwege. Gesanglich konnten sich in dieser Setzung die Sänger auf ein für alle Teilnehmer höchst angenehmes Niveau zurückziehen: sanft, weich und zurückgenommen klangen Ariosi und Deklamationen zu dem wiederum sehr präzise intonierenden Ensemble des Staatsorchesters Darmstadt.

David Pichkmaier (Luisse); Thomas Mehnert (Antinoo); Rudolf Schasching (Iro)

In der Pause wurde umgeräumt. Das Publikum kehrte in der Mitte des ersten Akts, der deutlich eingekürzten Oper auf die Hinterbühne zurück, wo inzwischen Stuhlreihen und Ränge aufgebaut waren, von denen man das szenische Spiel auf der Vorderbühne betrachten konnte, auf der auch das Orchester Platz genommen hatte. Die Sicht auf Saal und Ränge des rot bestuhlten Theatersaals wurde durch Schließen des Eisernen Vorhangs genommen, und dann wurde erst einmal die vor einiger Zeit völlig erneuerte Bühnentechnik des Darmstädter Hauses inszeniert: Züge und Hebepodeste vollführten ein ebenso lautloses wie rasendes Spiel; am Ende stand das Bühnenbild von Philipp Bußmann: eine große nach hinten aufsteigende Treppe aus beige-gelbem Holz. Darauf ließ der Regisseur Jay Scheib nun das weitere Geschehen einfach und verständlich ablaufen. Meentje Nielsen hatte das Bühnenpersonal in überwiegend moderne, unaufregende Kostüme gesteckt; lediglich ein Teil der Allegorien trat antikisiert auf.

Oleksandr Prytolyuk (Anfinomo), Minseok Kim (Telemaco), Vasiliy Khoroshev (Pisandro), Katja Stuber Amor), Anja Bildstein Ericlea), Herrenchor

Die Tragödie, bei der 15 Figuren zu Tode kommen, ist wie viele spätere Barockopern auch von heiteren Elementen durchzogen; die liegen vor allem in der Figur des Vielfraßes Iro, bei dem keiner trauert, dass ihm durch das dramatische Geschehen im wahrsten Sinne des Worts die Nahrungsbasis entzogen wurde. Jay Scheib inszeniert einige weitere Figuren des Geschehens mit aus der Gegenwart gegriffenen menschlichen Schwächen oder „komischen“ Auftritten: der wie ein begossener Pudel an Land kommende Ulisse, der ungezogene Iro, die durchnässten Zigaretten: Menschliches, allzu Menschliches. Wo das Libretto jeweils nur drei Personen vorsieht (Phäaken, Freier) bot die Regie dazu noch einen elf-köpfigen Chor auf, was den entsprechenden Auftritten (die Phäaken in karnevalistisch angehauchten Matrosenkostümen, die Freier gigolomäßig in hellen Anzügen) mehr Nachdruck und Gestaltungsmöglichkeit verlieh. Warum Ulisse als Frau verkleidet wurde, war nicht klar. Seine Penelope trat in antik geschnittenem Schwarz mit Schulterspangen, aber auch in attraktivem, modernem Cocktail-Kleid auf. Telemaco und Eurimaco waren ununterscheidbar auf einen Sänger vereinigt. Alles in allem eine in den Abläufen handwerklich solide Regiearbeit, teilweise Antifiguren in Kleinszenen; es fehlt aber der tragende Überwurf.

Mary-Ellen Nesi (Penelope), David Pichlmaier (Ulisse)

Von den achtzehn Figuren der Oper waren Giove (nur dessen Adler wurde thematisiert) und Eumaios gestrichen; der Rest auf elf Solisten konzentriert, die ihre Sache durchweg gut machten. David Pichlmeier, dessen jugendlicher Erscheinung man die zweimal 10 Jahre des Titelhelden von Ilias und Odyssee nicht ansah, gefiel mit kultiviertem hellem Bariton. Mary-Ellen Nesi als Penelope konnte es sich leisten, im Badeanzug aufzutreten; schlank auch der Ausdruck ihres sauber geführten Mezzo-Soprans. Katja Stuber ließ ihren klaren Sopran in den Rollen von Minerva und Amor leuchten. Jana Baumeisters runder und weich anrechender Sopran überzeugte als Fortuna und Melanto. Mit Minseok Kim mit kraftvollem Tenor war der Telemaco (auch Eurimaco) besetzt; und Andreas Wagner verlieh dem Hirten Eumete seinen sanften Tenor. Rudolf Schasching als Gast brauchte als Vielfraß Iro keinen Bauch umgebunden zu bekommen. Sei enormes Spektrum bewies er in dieser Rolle mit kraftvollem baritonalem Tenor und überzeugendem Schmelz. Das Darmstädter Urgestein Thomas Mehnert war ohne Fehl und Tadel in den als Tempo, Nettuno und Antinoo bis in die sonoren Tiefen seiner gepflegt runden Bassstimme. Dem weiteren Freier Anfinomo verlieh Oleksandr Prytolyuk mit seiner kräftigen Baritonstimme ordentliches stimmliches Profil. Vasily Khoroshew als Pisando konnte sich manchmal nicht für das Register entscheiden und fiel Falsett ins natürliche tenor-Register und umgekehrt. Die beiden letztgenannten Sänger gaben auch die Rollen der Phäaken. Anja Bildstein rundete als Ericlea und l’humana fragilità mit feinem, schlanken Mezzosopran das positive Bild der Solisten ab.

Minseok Kim (Telemaco), Oleksandr Prytolyuk (Anfinomo), David Pichlmaier (Ulisses)

Mit George Petrou leitete ein ausgewiesener Barock-Spezialist (Schwerpunkt auch bei Giovanni Simone Mayr) das um Originalinstrumente ergänzte Ensemble des Staatsorchesters Darmstadt. Sauber und präzise wurde ein federnder Monteverdi mit schönen Klangmischungen von Streichern, Zupfinstrumenten und Holzbläsern musiziert. Beim Herrenchor (Einstudierung Joachim Enders) passte indes nicht immer alles zusammen.

Fazit: Karsten Weigand erlaubte sich zum Beginn seiner Spielzeit einen ebenso personal-aufwändigen wie ausstattungseinfachen Abend (nächste Vorstellungen am 28.09., 03., 09. & 10.10., dann noch sechs weitere Male bis zum 17.12.), dessen durchaus interessante Setzung mit Neigung zu Event und Theaterspaß künstlerisch von eher durchwachsenem Wert ist, weil in dieser Kombination an sich kein Mehrwert liegt. Die Vermischung von „Non hay caminos, hay que caminar“ mit dem Publikum bleibt akustisch grenzwertig, und der Zusammenhang mit Monteverdi bleibt auch deswegen unbewiesen, weil der größte Teil der Oper, wenn auch an ungewohntem Ort, aber letztlich konventionell aufgeführt wurde. Bei Doppelabenden werden ja heute alles (Un)Mögliche kombiniert; aber da wird thematisch und dramaturgisch zu recht zwischen den Stücken getrennt.

Manfred Langer, 26.09.2014 Fotos: Thomas Jauk