Üppig bebilderte Saisoneröffnung
Eine unter dem Eindruck des Ukraine-Kriegs höchst aktuelle Produktion! Der Regisseur sagte dazu in einem am Tag vor der Premiere erschienenen Zeitungsinterview: „Die Ereignisse in der Ukraine beschäftigen uns jeden Tag, schon deshalb, weil wir Ukrainer in den Ensembles haben. Aber das Projekt ist schon vier Jahre in Planung, durch die Pandemie hat sich die Realisierung verzögert. Das Konzeptionelle hat sich durch den Krieg in der Ukraine nicht verändert, es hat davor genauso Kriege gegeben. Natürlich hat sich die Dringlichkeit des Stücks noch einmal verstärkt. Während der Proben haben wir sehr emotionale Momente gehabt.“
Es ist übrigens keine neue Idee, Benjamin Brittens Oratorium szenisch auf eine Opernbühne zu bringen. Das gab es z.B. schon sehr erfolgreich vor 10 Jahren in Gelsenkirchen und vor vier Jahren in Lyon. In Graz hatte man diesmal die szenische Ausdeutung Lorenzo Fioroni übertragen, über den das Programmheft schreibt: Der Schweizer wird von der Fachpresse für sein sinnliches, emotionales Musiktheater gefeiert.
Brittens Oratorium erzählt keine Geschichte, wie etwa Händels Oratorien, die ihre Operntauglichkeit längst bewiesen haben, sondern ist ein kontemplatives Werk ohne jede Handlung und äußere Dramatik, das den alten Text der lateinischen Totenmesse mit Antikriegs-Gedichten von Wilfred Owen kombiniert. Also erfand Lorenzo Fioroni mit seinem Team eine Fabel. Über das Ergebnis liest man in der Nachtkritik : Der Regisseur Lorenzo Fioroni begräbt zum Saisonauftakt Benjamin Brittens "War Requiem" unter einer Überfülle von Aktionen. Die Musik wird zum Soundtrack einer aus den Fugen geratenen Begräbnisfeier. Dieser Zusammenfassung kann ich mich vollinhaltlich anschließen!
Man kennt in Graz bereits die Zugangsweise von Lorenzo Fioroni durch zwei Inszenierungen (2016: Griechische Passion und 2018: Cavalleria/Pagliacci) Ich schrieb damals: grell-bunt, üppig, optische Überfrachtung, zeitgeistiges Theater mit all zu viel Zeigefinger-Gehabe, üppiger Hollywood- und Medien-Glamour Das gilt auch diesmal!
Fioroni hat für die selbst erfundene Fabel den gesamten Bühnenraum mit der skurill bebilderten Begräbnisfeier ausgefüllt, den überdeckten Orchesterraum und zum Teil auch das Parterre und die Logen bespielt und das Publikum zum Bestandteil seiner Inszenierung gemacht.
In einer ermüdend langen, fast 30 Minuten dauernden Einleitung ließ Fioroni den rund 70-köpfigen skurril-grotesk kostümierten Chor und Extrachor samt gut 20 – 30 Statisten (Platzanweiser, Filmleute, Security, Buffet-Catering) durch den Zuschauerraum auftreten und die Bühne bevölkern, bevor erstmals die Brittenmusik erklingt. Der Sarg, der ursprünglich im Foyer des Opernhauses aufgebahrt war und an dem das gesamte Publikum bei Einlass vorbei musste, wurde hereingebracht und zentral auf einen Katafalk gestellt. Das Ritual des Requiems nimmt seinen Anfang. Tenor- und Baritonsolisten sind Veteranen, die den Ablauf konterkarieren, ja stören. Sie sind ebenso skurill kostümiert wie alle anderen und sind daher szenisch gar nicht als ein Kontrast erkennbar.
Die detailreiche Bilderflut überschwemmt den Betrachter, ohne dass man die Bedeutung erfassen kann. Immer mehr gerät die Feier aus den Fugen und das Ritual mit geistlichen und militärischen Repräsentanten und verschiedenen Nationen zerfällt. Der Solosopran sprengt das Geschehen vollends. Die Sopranfigur ist rätselhaft und mehrdeutig. Sie ist offenbar tief traumatisiert – in ihrer zornigen Wut mag sie die Repräsentantin aller Frauen sein, aber vielleicht auch den Tod selbst verkörpern.
Und damit beende ich die Beschreibung der zahllosen szenischen Überspitzungen und wende mich den ausgezeichneten musikalischen Leistungen zu. Diesmal ist als erstes auf die hervorragende Leistung von Chor- und Extrachor (Leitung: Bernhard Schneider) einzugehen. Es war geradezu unglaublich, wie homogen und klangschön der heikle Chorpart (auswendig und bei beträchlicher darstellerischer Belastung!) wiedergegeben wurde. Großes Kompliment! In dieses Kompliment ist auch die Singschul‘ des Hauses (Leitung: Andrea Fournier) einzubeziehen. Auch die drei Solopartien sind bestens besetzt. Erstmals erlebte man auf der Grazer Opernbühne die Schweizer Sopranistin Flurina Stucki . Sie bewältigte die exponierte Partie hervorragend. Die beiden männlichen Solisten stammen aus dem Grazer Ensemble. Markus Butter passt mit seinem viril-markanten Bariton ideal für die von Benjamin Britten ursprünglich für Dietrich Fischer-Dieskau konzipierte Partie. Klar und wortdeutlich, aber auch lyrisch sehr schön abgestimmt war er eine Idealbesetzung. Matthias Koziorowski ist mit seinem hellen und höhensicheren Tenor grundsätzlich ausgezeichnet für die Peter-Pears-Partie geeignet. Manchmal war er zuletzt mit seinem Einheitsforte etwa eindimensional. Diesmal war er vor allem im zweiten Teil merkbar um klangliche Differenzierung bemüht – ein deutlicher Fortschritt gegenüber seinen bisherigen Rollengestaltungen. Die musikalische Gesamtleitung hatte Opernchef Roland Kluttig. Diesmal war es wohl vor allem eine glanzvolle organisatorische Leistung, war doch das große Orchester der Grazer Philharmoniker ganz hinten an der Rückwand der Hinterbühne postiert.
Roland Kluttig stand also den ganzen Abend mit dem Rücken zum Chor, zu den Solisten und dem 12-köpfigen Kammerorchester, das die beiden männlichen Solisten begleitete und rechts auf der Vorderbühne postiert war. Die Koordination erfolgte über Bildschirme und vor allem über den Dirigierassistenten Johannes Braun, mit dem Roland Kluttig wohl schon seit seiner Coburger Zeit vetrauensvoll verbunden sein dürfte. Die Gesamtkoordination gelang jedenfalls ohne merkbare Probleme hervorragend, sodass ein optimales akustisches Gesamtbild gesichert war. Einzige Anmerkung: Das große Orchester trat manchmal durch seine weit entfernte Positionierung auch akustisch allzu sehr in den Hintergund.
Es war eine spektakuläre Saisoneröffnung, die das Publikum merkbar packte und einhellig großen Beifall auslöste.
Es sei nicht verschwiegen, dass nicht nur bei mir, sondern bei vielen im Zuschauerraum (aber auch Im Orchester!) großes Bedauern darüber besteht, dass dies die letzte Saison von Roland Kluttig als Grazer Opernchef ist. Der ab 2023/24 ins Amt kommende neue Intendant hatte sich nicht rechtzeitig zu einer möglichen Vertragsverlängerung von Roland Kluttig geäußert. Daher hatte Kluttig selbst die Konsequenzen gezogen – siehe dazu den informativen Zeitungsartikel vom Mai dieses Jahres. Soweit mir bekannt ist, ist die Nachfolgefrage noch nicht gelöst. Für mich ist jedenfalls klar: Kluttigs Abgang ist für Graz ein Verlust!
Hermann Becke, 25. 9. 2022
Szenenfotos: Oper Graz © Werner Kmetitsch