Die Oper Graz schreibt in ihrer Ankündigung: „Seit zwei Jahrzehnten hat Wilfried Zelinka im Ensemble der Oper Graz die hiesige Opernlandschaft maßgeblich geprägt. Nun interpretiert er Franz Schuberts „Schwanengesang“ und löst sich, dank der von Andreas Heise eigens für das Ballett der Oper Graz choreographierten Umsetzung des Liederzyklus, von seiner starren Position nebst dem Flügel. Nach dem überwältigenden Erfolg mit „Sandmann“ arbeitet Andreas Heise erneut mit dem Ballett der Oper Graz, um sich hier choreographisch mit einem seiner bevorzugten Komponisten, dessen „Winterreise“ er bereits umgesetzt hat, zu beschäftigen.“
Dazu passt, was wenige Stunden vor der Premiere der Solist Wilfried Zelinka schreibt:
„Der letzte Premierenabend dieser Saison an der Oper Graz – und für mich ist es tatsächlich die 90. Premiere an diesem Haus in 20 Saisonen seit 2002. Dies mit der wunderbaren Produktion von Andreas Heise und mit all den talentierten Tänzern zu feiern, ist ein besonderes Privileg!“
Eigentlich hätte diese Premiere ja schon im April 2020 stattfinden sollen. Die Proben hatten schon im Dezember 2019 begonnen. Jetzt nach über zwei Jahren konnte dieses Projekt endlich uraufgeführt werden – es ist zu einer idealen Ausgewogenheit zwischen Gesang und Tanz gereift und verschaffte dem leider nicht allzu zahlreich erschienenen Publikum ein großes und sehr freundlich akklamiertes Erlebnis der besonderen Art! Ich sehe drei Hauptgründe für das Zustandekommen dieses Erfolgs:
Die Grazer Ballettdirektorin Beate Vollack ist eine bekennende Schubert-Verehrerin, wie ihr Beitrag im Programmheft Geliebter Franz! Ein Brief an die Vergangenheit beweist. Sie tritt in dieser Produktion gemeinsam mit ihrem 17-köpfigen Ballettensemble als das personifzierte weibliche Element auf.
Das Programmheft lässt offen, ob sie das Weibliche an sich oder etwa eine konkrete Frau aus Schuberts Leben verkörpert. Da denkt man unwillkürlich an Gräfin Karoline Esterházy de Galántha , die Schubert bis zu seinem Lebensende sehr vereehrt hat. In einem Beitrag liest man u.a.: Während dieser Zeit komponiert er einige Stücke für Klavier zu vier Händen. Auffällig an diesen Werken ist, dass die Arme der Spieler sich häufig kreuzen. Vermutlich steckt dahinter der Wunsch, die Hand der jungen Gräfin, zu der Schubert eine heftige Zuneigung gefasst hatte, zu berühren. So widmete er ihr u.a. den Schwanengesang. An diese Überlieferung musste ich denken, als im Laufe des Abends mehrfach Beate Vollack und Wilfried Zelinka mit geöffneten Armen aufeinander zugingen, sich aber nicht die Hände reichten, sondern berührungslos und ohne Blickkontakt aneinander vorbeischritten.
Ein entscheidender Erfolgsgarant war – wie erhofft und erwartet! – der Gesangssolist Wilfried Zelinka. Man hat ihn in den letzten 20 Jahren in einer außerordentlichen Bandbreite von kleinen, mittleren und großen Rollen seines Fachs sich so erfreulich entwickeln erlebt und dabei schätzen gelernt. Es ist tatsächlich so, wie die Oper Graz schreibt: ….hat im Ensemble der Oper Graz die hiesige Opernlandschaft maßgeblich geprägt. Diesmal übertraf er sich neuerlich. Er überzeugte gesanglich und darstellerisch gleichermaßen. Er verkörpert den durch das Leben wandernden Menschen mit überzeugendem Charisma und wahrt geradezu ideal das Gleichgewicht zwischen individueller Betroffenheit und Distanziertheit. Dazu kam eine höchst konzentrierte stimmliche Leistung, die nie ins vordergründig Opernhafte auswich. Die Stimme wurde in allen Lagen und dynamischen Abstufungen ausgewogen geführt. Ich meine, Wilfried Zelinka hat sich an der maßstabsetzenden Interpretation von Hans Hotter orientiert, der es meisterhaft verstanden hatte, sein mächtiges Organ bei der Liedinterpretation schlank, ja geradezu zart einzusetzen. Zelinka ging bei der schlanken Stimmführung machmal fast zu weit: z.B. bei Ihr Bild geriet er an seine Genzen. Am Flügel begleitete ihn der erfahrene Solorepetitor des Hauses Emiliano Greizerstein. Er war dem Solisten, der ja sehr oft weit weg vom Klavier und in bewegter Aktion zu singen hatte, eine sichere Stütze. Die kleinen Unregelmäßigkeiten, die fallweise bei Sänger und Pianisten auftraten, sind leicht zu verschmerzen und beeinträchtigen nicht den sehr schönen musikalischen Gesamteindruck.
Und der dritte entscheidende Erfolgsfaktor war die kluge und feinfühlige Choreographie von Andreas Heise Das Bühnengeschehen wirkte nie intellektuell „aufgesetzt“, sondern stets aus der Musik geradezu natürlich entwickelt. Heise nutzte die optische Vielfalt des 18-köpfigen Grazer Ballettensembles, um menschliche Individualität zu zeigen und nie in bloß mechanistische Bewegungsbilder zu verfallen. Das ist auch einer große und absolut geschlossenen Leistung aller Tänzerinnen Tänzer zu danken, deren Namen und Viten hier nachgelesen werden können. Andreas Heise hat nie die einzelnen Lieder bloß bebildert, wenn es auch fallweise ganz konkrete Bezüge zum Text gab. So zum Beispiel beim betörenden Fischermädchen:
In der Stille vor und nach dem Lied Ihr Bild waren sehr effektvoll zwei Pas de deux ohne jegliche Musik eingebaut. Die Überlegungen des Choreographen gingen bühnenwirksam auf – das zeigte auch die atemlose Stille im Publikum! Erst der Tanz kann diese Stille darstellen und macht es möglich, das hier zwei Menschen in einem Raum atmen. In einem (herkömmlichen) Liederabend wäre diese Ruhe, diese Stille so nicht möglich. Der Übergang zwischen den Rellstab- und den Heine-Liedern wurde durch die Einfügung eines Ausschnitts aus Schuberts Moments musicaux und durch eine tänzerische Gestaltung durch Beate Vollack gemildert. Nicht jedes Lied wurde konkret bebildert – eindrucksvoll gelang z. B. die abstrakte tänzerische Gestaltung von Die Stadt durch eine Menschenpyramide:
Vor dem vom Verleger hinzugefügten Schlussstück Die Taubenpost wird der musikalische Bruch zum dramatisch aufgeladenen Doppelgänger durch die Einfügung von Schuberts Ungarische Melodie gemildert – übrigens komponierte Schubert diesen rhythmisch-melodisch sehr inspirierten Satz zu jener Zeit, als er auf Gut Zselisz als Klavierlehrer der Familie Esterházy weilte. Und wieder gingen Mann und Frau mit offenen Händen aufeinander zu, ohne sich zu berühren – siehe oben die Assoziation zu Gräfin Karoline Eszterházy!
Beim Schlussstück wurde optisch der Bezug zum Beginn hergestellt: noch vor Beginn des Schwanengesangs erklang Schuberts Impromptu in B-Dur, op. post. 142/3. Dazu setzt sich der Protagonist (Schubert?) an einen Tisch und beschreibt ein Notenblatt und zerknüllt es dann. Dieses Notenblatt wird am Ende wieder geglättet und gleichsam als Taubenpost versandt.
Dieses Schlußlied wird ohne Ballett nur in Einsamkeit vom Solisten gestaltet. Ein überzeugendes Bild zu dem, was der Choreograph Andreas Heise im Programmheft schreibt: ‚Die Taubenpost‘ ist gleichsam die Zusammenfassung von Schuberts Leben, denn diese herzzerreißende Melodie benennt in der wiederholt vorgebrachten Frage die Sehnsucht nach etwas Unerfülltem.
Als jemand, der wahrhaft meint, den Schubertschen Schwanengesang gut zu kennen, sei mit Freude eingestanden: ich habe diesmal den Liederzyklus völlig neu erlebt. Die Ausgewogenheit zwischen Musik, Text und tänzerischer Gestaltung war vollkommen. Nichts drängte sich ungebührlich in den Vordergrund, nichts war eitle Selbstdarstellung – alles diente einer neuen und erweiterten Sicht auf ein Meisterwerk. Dafür ist der Oper Graz und allen Ausführenden sehr zu danken – verbunden mit dem Aufruf speziell an alle Lied- und Ballettbegeisterten, aber überhaupt an alle, die an neuen musikalischen Aufführungsformen interessiert sind: unbedingt in eine der restlichen drei Aufführungen am 2., 8. oder 15.Juni gehen – Das darf man als Musikliebhaber nicht versäumen!
26. 5. 2022, Hermann Becke
Szenenfotos: Oper Graz, © Ian Whalen
PS:
Mit Ende der nächsten Spielzeit 2022/23 wird die beim Publikum allgemein sehr geschätzte Ballettdirektorin Beate Vollack Graz verlassen. Aus der Pressemeldung: Mit dem Wechsel der Intendanz an der Oper Graz wird auch die Ballettdirektion neu besetzt werden: Ulrich Lenz, mit Beginn der Spielzeit 2023/24 neuer Intendant der Oper Graz, engagiert den international vernetzten Tanzmanager Dirk Elwert, derzeit als stellvertretender Ballettdirektor an den Theatern Chemnitz tätig, als neuen Leiter der Sparte Tanz.