Dessau: „Otello“

Premiere: 16.9.2017

Die Welt ist Weiß und ein bisschen Schwarz. Ist sie das? Nach der Pause wird sie Schwarz und noch ein bisschen Weiß sein: verschmutzt wie schon die weiße Welt, die so weiß nicht sein kann. Nur Otello und Desdemona konnten reinweiß auf die schwarzgraue Szene treten. Im Verlauf der Tragödie, die, genau genommen, keine ist (aber sie ist grausam genug), werden auch der Feldherr und seine geliebte Frau beschmutzt werden: beschmutzt von den Machenschaften Jagos.

Wer sich in Dessau eine szenisch deutliche und musikalisch unterm Strich höchst gelungene Inszenierung des „Otello“ anschaut, wird auch auf den Urheber des Schmutzes hingewiesen, der Otello und Desdemona in die Vernichtung treiben wird. Der Regisseur Roman Hovenbitzer interessiert sich nicht für die psychologischen Gründe für Otellos und Desdemonas Versagen: nicht für seine seelische Disposition, die in seiner Herkunft verankert scheint, nicht für Desdemonas naive Art, mit den Anschuldigungen Otellos umzugehen. Vielleicht hat die Regie Recht, vielleicht sind die beiden Protagonisten wirklich keine Charaktere, sondern noch die Typen, wie sie in der literarischen Vorlage Arrigo Boitos, einer Renaissancenovelle, angelegt sind. Dagegen spricht nicht einmal die Musik Giuseppe Verdis, der seine Figuren mit größter Genauigkeit begleitet hat. Dagegen sprechen auch nicht die teilweise betörenden vokalen Leistungen des Paares. Nein, Hovenbitzer interessiert sich – womit er völlig Recht hat – im Prinzip nur für Jago, den Urheber des Bösen, den Bösen an sich, den Dämon in seiner äußerlich harmlosesten Gestalt, der keine nachvollziehbare Begründung für sein Zerstörungswerk benötigt. Am Ende wird allein er übrigbleiben und noch den letzten Faden ziehen: hinter Otello stehend, wird er kalt lächelnd beobachten, wie sich sein Opfer mit dem von ihm gereichten Dolch erstechen wird.

Er selbst war es, der Otello, sein Schlachtvieh, zu Otellos Opferlamm führte. Schon dieser Gang durch die schwarzen Wände der Drehbühne ist, man muss es zugeben, in der Dessauer Interpretation musikdramatisch zutiefst erschütternd – und abgefeimt und im Grunde unerklärlich ist der Kuss, den Jago, nicht Otello der schlafenden Frau gibt, die gleich durch seine Intrige sterben wird. Der Triumph des Bösen oder Jago, Jago, der Neid und der irrationale Hass. „Jago“, so sollte die Oper ja auch zunächst heißen. Die Interpretation ist stark, sie wird tatsächlich von Jagos letzten Worten nicht widerlegt. Der Mann hat einfach Nerven aus Stahl: bis die Videoprojektion (Barbara Janotte) auf dem Gazestoff, ein bewegtes Kunstwerk aus abstrakten Pinselstrichen, nur mehr eine schwarze Wand zeigt.

Jago war schon im Anfang der einzige, der inmitten den orgelpunktfundierten Sturms völlig ruhig blieb. Ulf Paulsen spielt einen artikulatorisch nicht immer reinen, also m. M. nach stimmlich nicht über alle Zweifel erhabenen Mann (Stimmen sind und bleiben Geschmackssache), der doch szenisch fasziniert, weil er sich mit der von Verdi und Boito geforderten Wendigkeit mit ungeheurer Eleganz seinen jeweiligen Gesprächspartnern (also seinen jeweiligen Opfern) anzupassen scheint. Riesenbeifall für Paulsen, den ersten, stets viel geforderten Bariton des Hauses, der mit dieser Partie seinem Rollenregister eine neue große Figur zugeführt hat. Nicht nur das Credo klingt erdrückend, doch nicht präpotent in den Saal. Regie und Bühnenbild (Herrmann Feuchter) nutzen die Nummer, um gehörig Asche aus ihr zu pusten: die Silhouette eines primitiv umrandeten Menschen fängt plötzlich an zu brennen; die Asche wird dann von Otello und Jago als Kriegsbemalung ins Gesicht geschmiert. Es gab schon dümmeren Symbolismus in manch Otello-Inszenierung. Die Dessauer Bildwelt aber zeichnet sich samt gedrehten Wänden durch das einfache, aber sinnfällige Miteinander von Schwarz, Grau und Weiß aus – und wenn die böse Geschichte eine neue Wendung erfährt, wird die Bühne mit ihrem Zylinder wieder in Bewegung gesetzt.

Es sind immer wieder längere und kürzere Tableaus, die auch über diese Inszenierung entscheiden. Grandios das überlange Kleid (entworfen von Judith Fischer), mit dem Desdemona vor der Serenade hoch über dem Bühnenboden schwebt, bevor der lange Teil von Kinderhänden beschmutzt wird. Später, im Anklagebild des 3. Akts, wird Otello selbst schmutzige Händespuren auf ihrem eigentlichen Kleid, das reinweiß blieb, hinterlassen. Wenn sämtliche Zeigefinger des gesamten Ensembles wütend auf den Ankläger zeigen, und wenn Jago am Ende des auch hier erschütternden Akts den einstigen „Löwen“ mit der venezianischen Löwenfahne bedeckt, ist der Einfall so simpel wie eindrücklich. Was sonst noch auffiel, war ein brennender Türkenkopf, mit dem sich die Meute des ersten Akts vergnügt, mit dem auch Sexy Bianca (Gerit Ada Hammer), die, auch dank Strumpfband, im Grunde nur ein verschleuderbares Objekt militärisch-machistischer Begierden ist, spielen darf. Etwa für den guten Cassio des Kwonsoo Jeon und den schwächeren, weil schütter klingenden Rodrigo (David Ameln), dem der glänzende und stimmstarke Lodovico des Michael Tews zur Seite steht. Und Rita Kapfhammer als gouvernantenhafte und doch vitale Emilia ist wieder ein Pluspunkt des Dessauer Ensembles, zu dem der von Sebastian Kennerknecht und Dorislava Kuntscheva geleitete Dreifachchor aus Normalformation, Extrachor und Kindertruppe gehört. Und über das Orchester, die Anhaltische Philharmonie Dessau, wäre zu sagen, dass sie unter Markus L. Frank einen grundsoliden Verdi spielte, der den Kontakt zu den Sängern nicht verlor.

Desdemona gewinnt, rein stimmlich betrachtet, in Dessau ab dem 3. Akt eine Fahrt, die nicht mehr aufzuhalten ist. Iordanka Derilova begeisterte mich ab dem Quartett des 3. Aufzugs, in dem sie zeigt, wie dramatische Kraft und Stimmschönheit souverän einhergehen können. Das Lied an die Weide und das Ave Maria, auch ihre Abschiedsworte: das war ergreifendes, großes Kino: als Tod einer Frau, deren seltsamer „Fehler“ darin bestand, allzu blond und rein zu sein und zu denken. Ergreifend: das ist auch der Otello des Ray M. Wade. Sind dem sympathischen Sänger auch aufgrund seiner massiven Statur manch szenische (nicht alle!) Bewegungen unmöglich – die Regie sollte ihn, schon aus stimmlichen Gründen, niemals sanft zu Boden und in den Schoß einer Bühnengeliebten gleiten lassen -, so erfüllt er die Partie mit stets erfülltem Ausdruck. Die Möglichkeiten seines Heldentenors reizt er dort aus, wo sie gefordert sind: zuerst im „Esultate“, dann im verzweifelten Abschied von einstigem Ruhm. Die baritonale Basis, die der Otello im Grunde besitzen muss, stehen Wade, bis zum lamoryanten letzten Addio, ebenfalls zu Gebote. Mit anderen Worten: Wer nach Dessau reiste, um diesen fein nuancierenden, über gewaltige Mittel verfügenden Sänger zu erleben, der doch das Lyrische kann und liebt, wurde nicht enttäuscht.

Riesenbeifall also für eine gute Produktion des packenden Stücks.

Frank Piontek, 18.9. 2017

Fotos: Claudia Heysel