Heidelberg: „Le nozze di Figaro“

Premiere: 18.9.2015

Irrungen und Wirrungen in der Parteizentrale

Mit einem wahren Paukenschlag startete das Theater der Stadt Heidelberg in die neue Saison: Die Neuproduktion von Mozarts Oper „Le nozze di Figaro“ geriet zu einem triumphalen Erfolg für alle Beteiligten. Der überaus herzliche Schlussapplaus, in den sich nur ein einziger, in keinster Weise gerechtfertigter Buhruf für die Regie mischte, war nur zu berechtigt. Hier haben wir es mit einem in jeder Beziehung einfach grandiosen, viel Freude bereitenden „Figaro“ zu tun, bei dem sich Szene, Musik und Gesang zu einem phantastischen, höchst stimmungsvollen Ganzen zusammenfügten und der als i-Tüpfelchen noch eine besondere Überraschung bereithielt. Dazu später. Aber dass man von dem schon oft bewährten Heidelberger Theater höchste Qualität erwarten kann, dürfte inzwischen allgemein bekannt sein. Die zahlreichen Auszeichnungen, die dem Haus in den letzten Jahren zuteil wurden, sprechen für sich. Zweifellos gehört es zu den besten Operntheatern in Deutschland, das einen Besuch immer lohnt. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass Intendant Holger Schultze und Operndirektor Heribert Germeshausen das Haus in den letzten Jahren auf ein derart exzellentes Niveau gehoben haben, das sogar größere Theater neidisch werden könnten. Und dieser exquisite „Figaro“ ist nur ein Beispiel für den hohen Standard, der in Heidelberg gepflegt wird.

James Homann (Figaro), Rinnat Moriah (Susanna)

Am Regiepult hatte zum wiederholten Male die junge Nadja Loschky Platz genommen, die in Heidelberg bereits Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“ und „Cosi fan tutte“ sowie die „Carmen“ inszeniert hatte. Und erneut ist ihr eine Produktion von so großer Meisterschaft gelungen, dass es wohl nur noch eine Frage der Zeit sein dürfte, bis sie den Sprung an die ganz großen Bühnen des In- und Auslands schafft. Immerhin inszenierte sie bereits an der Zürcher Oper. In nicht allzu ferner Zukunft möchte man sie auch mal in München, Stuttgart, Frankfurt, Mannheim oder Karlsruhe erleben. Sie ist eine Regisseurin, die ihr Handwerk ganz ausgezeichnet versteht. Dass sie das vorzügliche Heidelberger Ensemble schon gut kennt, mag bei ihren durch die Bank ausgesprochen präzisen, scharfen und pointierten Charakterzeichnungen sicher von großem Vorteil gewesen sein. Ganz offensichtlich hat die Chemie zwischen Regisseurin und Sängern gestimmt. Frau Loschkys ausgefeilte, stringente und auf die Persönlichkeiten der einzelnen Gesangssolisten trefflich abgestimmte Personenregie war wieder einmal vom Feinsten und trug viel zur Kurzweiligkeit des überaus gelungenen Abends bei.

Wie man es von Nadja Loschky gewohnt ist, hat sie auch dieses Mal wieder den zeitlichen Rahmen etwas variiert und das Stück aus dem Sevilla des ausgehenden 18. Jahrhunderts in das Italien der 1960er Jahre verlegt und dem Ganzen zudem einen erfrischenden politischen Anstrich gegeben. Das von Ulrich Leitner stammende, in eichenen Braunfarben gehaltene und ästhetisch den Filmen eines Jacques Tati huldigende Bühnenbild mit verschiebbaren Wänden und einigen Pflanzentöpfen stellt eine recht nüchtern wirkende, filmartig nach vorne zoomende Parteizentrale dar. Es ist ein in sich abgeschlossener Raum, der aufgrund fehlender Sitzmöglichkeiten nicht gerade bequem anmutet. Ein Entkommen aus ihm ist nicht möglich. Dem politischen System des hier vom spanischen Grafen zum modernen italienischen Politiker mutierten Almaviva kann man sich nicht entziehen. Seine Herrschaft ist zeitlich begrenzt. Im Augenblick findet wieder ein Wahlkampf statt. An der Wand hängen überall verstreut Wahlplakate herum mit dem Bild des Conte und der Aufschrift: „Donne, votate Almaviva – Progresso“ – auf Deutsch: „Frauen, wählt Almaviva – Fortschritt“. Bezeichnend ist, dass die Adressaten dieses Anschlags nur Frauen sind, denen ja in erster Linie das Interesse des jungen, nicht unsympathisch gezeichneten Schürzenjägers gilt. Ständig lässt er seine zahlreichen, mit alten Schreibmaschinen und Aktenordnern ausgestatteten Sekretärinnen, unter ihnen auch Susanna, durch eine ebenfalls von einer Frau gesprochene Lautsprecherdurchsage in italienischer Sprache zu sich beordern, um nach einem neuen Opfer Ausschau zu halten. Das entspricht seinem Charakter voll und ganz. Aber auch das Wesen der anderen in den Bürobetrieb eingebundenen Protagonisten ist an keiner Stelle irgendwie verfälscht.

Rinnat Moriah (Susanna), Ipca Ramanovic (Conte Almaviva), Kangmin Justin Kim (Cherubino)

Der von Almaviva und der Contessa bei einer herrlich anzusehenden Tanzpantomime vermittelte schöne Schein ist strenggenommen nur eine Attrappe, eine Schauseite, die dem von der Regisseurin sehr individuell vorgeführten Chor vorgegaukelt wird. Darüber hinaus legt der Conte viel Wert auf Öffentlichkeit. Der Schuss geht aber nach hinten los. Immer wieder werden die Choristen zu Zeugen intimer Geschehnisse, die nicht für ihre Augen und Ohren bestimmt sind. Die Privatsphäre wird nicht immer gewahrt, was für die gerade

Betroffenen eine schwere Bürde darstellt. Daraus resultiert eine ganz eigene Betrachtungsweise der verschiedenen Situationen, was den Fokus einmal mehr auf das rein Menschliche legt. Komische und tragische Elemente halten sich die Waage. Das ist eben die Wirklichkeit, mit der man, so gut es eben geht, umzugehen hat. Ist hier aber wirklich alles real? Zumindest im vierten Akt, als sich immer mehr Pflanzen des Bühnenraumes bemächtigen, nimmt das Ganze einen ausgesprochen surrealistischen Charakter an. Fast hat es den Anschein, als ob dies die andere Realität ist, nach der sich die Protagonisten oft zu sehnen scheinen.

Rinnat Moriah (Susanna), James Homann (Figaro), Ks Carolyn Frank (Marcelline), Irina Simmes (Contessa Almaviva), Wilfried Staber (Bartolo) Ipca Ramanovic (Conte Almaviva)

Man merkt: Frau Loschky nimmt das Stück ernst. Trotz Modernisierung hat sie dessen Kern nicht angetastet, ja diesen vielleicht sogar noch intensiviert. An Äußerlichkeiten ist ihr wenig gelegen, sie interessiert vielmehr die innere Handlung. Und darauf legt sie alle ihre Energie. Akribisch dringt sie in die verborgensten Seelenschichten der beteiligten, von Violaine Thel fast durchweg rötlich und pinkfarben eingekleideten Personen – nur die Contessa trägt unschuldiges Weiß – vor, wobei sie ihr Hauptaugenmerk auf das Menschlich-Allzumenschliche legt, um es mal mit Friedrich Nietzsche zu sagen. Psychologisch einfühlsam spürt sie den geheimsten Wünschen und Sehnsüchten der Handlungsträger nach, nur um festzustellen, dass es sich auch bei den anscheinend edelsten doch um ausgemachte Schlawiner handelt, die gleich dem Conte auch gerne mal fremdgehen und diesem eigentlich gar nicht so unähnlich sind – einfach köstlich! In ihren Beziehungen zueinander und nach außen spiegelt sich in dieser Gesellschaft der ewige Gegensatz von Makrokosmos und Mikrokosmos wider. In der gleichen Weise, wie sie aufeinander bezogen sind, ist auch ihr Verhältnis zur Welt gestaltet. Wo der Adlatus Figaro und seine Verbündeten im großen, politischen Ambiente nichts bewirken können, versuchen sie es im kleinen, privaten Bereich. Dabei hat die Regisseurin das Wesen der Ständegesellschaft zur Entstehungszeit des Werkes, als die Französische Revolution gerade heraufdämmerte, gekonnt auf eine moderne Gesellschaft übertragen. Deutlich wird, dass die hierarchischen Strukturen damals wie heute dieselben sind, nur das äußere Gewand ist ein anderes. Das Verhältnis zwischen Herr und Domestiken ist das gleiche geblieben. Und hierin liegt das zeitlos Gültige des Stoffes, das Nadja Loschky mit dem ihr eigenen großen Scharfsinn trefflich erkannt und unter Betonung des Parabelhaften grandios umgesetzt hat. Bravo!

Auch musikalisch war der Abend in höchstem Maße bemerkenswert. Das ist Elias Grandy zu verdanken, der mit dem „Figaro“ seinen fulminanten Einstand als neuer GMD des Theaters und Orchesters der Stadt Heidelberg gab. Trotz seiner noch jungen Jahre erwies er sich bereits als ausgesprochen versierter Mozart-Dirigent, dem eine ganz große Karriere bevorsteht. Seine Auslotung der Partitur hatte Kraft, Feuer und Prägnanz. Das, was er zusammen mit dem konzentriert, intensiv und klangschön aufspielenden Philharmonischen Orchester Heidelberg da zu Gehör brachte, war so ganz anders als das, was man von anderen, auch berühmteren Dirigenten des Werkes gewohnt ist. Hört man sich den von Grandy und dem Orchester so hervorragend gezauberten Klangteppich an, drängt sich der Eindruck eines Bildes auf, das man gut zu kennen glaubt, in dem man aber auf einmal bisher unbemerkte Farben entdeckt, die einen in hohem Maße ansprechen. Den vielfältigen neuen Schattierungen und Nuancierungen, mit denen Grandy aufwartete, konnte man sich nur schwer entziehen. Sie gaben dem Werk etwas Frisches, Neues und überaus Gefälliges, um es mal mit Goethe auszudrücken.

Auch die gesanglichen Leistungen waren fast durchweg beglückender Natur. Zuerst sei hier die bereits erwähnte besondere Überraschung erwähnt, die Heribert Germeshausen dem Publikum bereitete: Er besetzte die Hosenrolle des Cherubino zum ersten Mal mit einem Mann, und zwar mit einem Countertenor. Nun ist diese im Regelfall unnatürlich klingende, weil stark auf der Fistelstimme fußende Gesangsart überhaupt nicht mein Fall. Aber was wäre die Regel ohne die Ausnahme: Kangmin Justin Kim erwies sich als wahrer Glücksfall für diese Rolle, die ansonsten eine Domäne von Mezzos und Sopranen ist. Er klingt so gar nicht wie die meisten anderen Vertreter seines Fachs, sondern wie ein echter (Mezzo-) Sopran. Der junge Sänger hat seine Stimme voll im Griff, singt volltönend und kräftig und vor allem wunderbar im Körper, was bei Countertenören eine absolute Seltenheit ist. Und auch schauspielerisch war er sehr überzeugend. Seine überaus sympathische, naive und sensitive Spielweise war einfach eine Wucht. Und viele Probleme, die sich bei einer Besetzung der Rolle mit einer Frau bei den Verkleidungsszenen für den Regisseur auftun, stellten sich hier naturgemäß gar nicht, was ein großer Gewinn für die Inszenierung war. Die Rechnung ist mithin voll aufgegangen.

Man möchte den jungen Sänger gerne einmal auch als Octavian oder Komponist hören. Phantastisch schnitt auch Irina Simmes als Contessa Almaviva ab. Spätestens mit dieser Partie ist die junge Sopranistin voll im lyrischen Fach angekommen. Sie entspricht ihrer Stimme, die seit vergangener Saison an Fülle und Sonorität zugelegt hat, voll und ganz. Herrlich, wie sie Rosinas Leiden mit beseelter, inniger und emotionaler, dabei bestens fokussierter Tongebung vermittelte. Auch darstellerisch war sie vorzüglich. Diese Contessa hatte gleichermaßen Grandezza, Witz und erotische Anziehungskraft. Ein schauspielerisch manchmal etwas ungehobelter, gesanglich mit kräftigem, markantem Bariton ansprechender Figaro war James Homann. Ein Vergnügen war es, der Susanna von Rinnat Moriah zuzusehen und -zuhören. Das war ein ausgemachter Schlingel, voll ausgelassenem Temperament und lustvollem Witz, der auch nicht davor zurückschreckte, sich einmal lediglich in Unterwäsche zu präsentieren. Gesungen hat sie mit bestens sitzendem, wandelbarem und intensivem Sopran ebenfalls perfekt. In der Partie des Schwerenöters Almaviva stand Ipca Ramanovic seinen Kollegen in nichts nach. Er verfügt über einen leicht und locker dahinfliessenden, gut verankerten und profund klingenden Bariton, der im Lauf des Abends zu immer größerer Form auflief und insbesondere bei seiner großen Arie zu Beginn des dritten Aktes punkten konnte. Eine Hommage von Nadja Loschky an eine Loriot-Figur stellte der Dr. Bartolo dar, den Wilfried Staber mit voluminösem Bass imposant sang. Solide war die Marcellina von Ks. Carolyn Frank. Gut gefiel die voll und rund intonierende Mi Rae Choi als Barbarina. Mit stark maskiger Tongebung stattete Ks. Winfrid Mikus den Basilio aus. Ebenfalls flachstimmig gab Young-O Na den Don Curzio. Recht halsig klang David Ottos Antonio. Gut waren Ekaterina Streckert und Jana Krauße als die beiden Frauen anzuhören. Zum Abschluss sei erwähnt, dass die Sänger hervorragend aufeinander eingespielt waren. Es wurde ein homogenes Zusammenspiel gepflegt, bei dem sich keiner in den Vordergrund drängte. Der Ensemblegedanke wurde an diesem Abend ganz groß geschrieben.

Fazit: Ein in jeder Beziehung meisterhafter, preisverdächtiger „Figrao“, der nachhaltig zu begeistern wusste und dessen Besuch dringendst empfohlen wird!

Ludwig Steinbach, 22.9.2015

Die Bilder stammen von Annemone Taake