Karlsruhe: „Hänsel und Gretel“

Besuchte Aufführung: 4.12.2016, (Premiere: 14.6.2003)

Hexentraum zweier Geschwister

Wie zur Adventszeit an vielen Opernhäusern allgemein üblich, stand auch am Badischen Staatstheater Karlsruhe heuer wieder Humperdincks Märchenoper „Hänsel und Gretel“ auf dem Spielplan. Die Inszenierung von Achim Thorwald in dem ästhetischen Bühnenbild von Christian Floeren und den gelungenen Kostümen von Ute Frühling hat in den dreizehn Jahren ihres Bestehens nichts an Kraft eingebüßt. Sie ist immer noch so sehenswert wie am ersten Tag. Kleine wie auch große Zuschauer zeigten sich mit dem Dargebotenen voll zufrieden. Und das war sehr verständlich. Was sich vor den Augen des Publikums abspielte, war einerseits durchaus kindgerecht, auf der anderen Seite aber auch recht innovativ und trefflich durchdacht.

Ks. Ina Schlingensiepen (Gretel), Kristina Stanek (Hänsel), Kinderballett

Thorwald hat sich der Geschichte um die im Wald verirrten Kinder mit viel Liebe angenommen. Sein Ansatzpunkt ist psychologischer Natur. Ihm geht es in erster Linie um die Aufzeigung von Angstzuständen in der Kinderpsyche. Alles, was die Geschwister in Furcht versetzt, wird seitens des Regisseurs übermäßig groß dargestellt. Das beginnt schon bei dem Elternhaus, das Hänsel und Gretel als „überdimensionaler Schrecken“ (vgl. Programmbuch) erscheint. Gegenüber der monumentalen Einrichtung und den sich auf Kothurnen fortbewegenden Eltern wirken die beiden Kinder klein und hilflos. Erst am Ende begegnen sich die Geschwister und das Besenbinderpaar auf Augenhöhe. Die Eltern erscheinen nun in ihrer normalen Größe, jetzt werden sie von ihren herangereiften Kindern nicht mehr gefürchtet.

Der zweite Akt begnügt sich nicht mit reiner Natur. Der die Geschwister mit Hilfe der Drehbühne umkreisende Wald erscheint als Metapher ihrer seelischen Ängste. Im Hexenbild wird dieses Konzept konsequent weitergeführt. Die sich zunächst recht liebevoll gebende und daher nicht gerade Angst einflößende Hexe erscheint als kleine, sich auf den Knien fortbewegende alte Frau. Erst nachdem sie die Maske fallengelassen und ihr wahres Gesicht offenbart hat, erhebt sie sich zu ihrer vollen Größe. Ebenfalls klein ist das Hexenhaus, in das der Backofen integriert ist. Die mutig gewordene Gretel darf die Zauberin am Ende allein in den Ofen schieben.

Gut mutet der Regieeinfall an, dass Hänsel und Gretel die Begegnung mit der Hexe nur träumen. Offenkundig wird, dass die Magierin nur einen Ausfluss der Phantasie der Geschwister darstellt und dass jedes Kind unter derartigen Angstträumen leiden kann. Was Thorwald anhand der Titelfiguren vorführt, die lernen, sich ihrer Furcht zu stellen, dieser zu trotzen und zu guter Letzt zu sich selbst finden, gilt für alle Kinder. Dies wird seitens der Regie dadurch verdeutlicht, dass am Ende die aus dem Bann der Hexe befreiten Lebkuchenkinder als Alter Egos von Hänsel und Gretel erscheinen. Sie sind wie diese gekleidet. Diese Konzeption war sehr überzeugend und wurde mit einer stimmigen Personenregie einfühlsam umgesetzt. Auch auf Brecht’sche Elemente versteht sich der Regisseur. So lässt er den Besenbinder bei seinem ersten Auftritt die Bühne durch den Zuschauerraum betreten. Herrlich anzusehen ist die nächtliche Pantomime, in der die den Schlaf von Hänsel und Gretel bewachenden Engel von einem niedlichen Kinderballett getanzt werden. Der Mann im Mond beobachtet das Ganze von erhobener Warte aus – ein sehr ästhetisches Bild. Unter diesen Umständen war es kein Wunder, dass der Schlussapplaus auch dieses Mal wieder ausgesprochen herzlich ausfiel.

Ks. Ina Schlingensiepen (Gretel)

Mit den Sängern/innen konnte man insgesamt zufrieden sein. Ks. Ina Schlingensiepen war darstellerisch eine recht anmutige Gretel, die sie mit bestens fokussiertem, differenziertem und mühelos bis zum hohen c hinaufreichendem lyrischem Sopran auch ansprechend sang. In nichts nach stand ihr Kristina Stanek, die den Hänsel recht burschikos spielte und mit ebenfalls vorbildlich sitzendem, wandlungsfähigem Mezzosopran auch perfekt sang. Die beiden Sängerinnen ergänzten sich hervorragend, ihre Stimmen harmonierten vorzüglich miteinander. Schauspielerisch einfach köstlich gab Matthias Wohlbrecht die Knusperhexe. Stimmlich machte er aus der Zauberin eine maskige Charakterstudie. Einen gut sitzenden, robusten Bariton brachte Jaco Venter für den Besenbinder Peter mit. Christina Niessen stattete die Gertrud vokal mit großer Dramatik aus. Mit enormer Stimmkraft und sehr markant sang Dilara Bastar das Sandmännchen. Recht dünn und kopfig klang dagegen Ilkin Alpay s Taumännchen. Gut machte seine Sache der Cantus Juvenum Karlsruhe.

Ansprechende Leistungen erbrachten Ulrich Wagner am Pult und die exzellent aufspielende Badische Staatskapelle. Das Dirigat zeichnete sich durch ebenmäßigen Fluss und eine enorme Farbpalette aus. Den Spagat zwischen Volksliedhaftigkeit und Wagnernähe haben Dirigent und Musiker gut bewältigt. Insgesamt wurden die verschiedenen Facetten von Humperdincks vielschichtiger Musik trefflich herausgearbeitet und einander gegenübergestellt, woraus ein abwechslungsreicher, nuancierter und ausdrucksstarker Klangteppich resultierte.

Fazit: Eine gelungene Wiederaufnahme, deren Besuch sich durchaus gelohnt hat.

Ludwig Steinbach, 5.12.2016

Die Bilder stammen von Jochen Klenk