Premiere am 17. Juli 2019
Atemberaubendes Spektakel setzt Maßstäbe
Zu Beginn werden die Zuschauer von einem Clown (siehe unten) ausdrücklich aufgefordert jetzt (und nicht später!) zu fotografieren, denn auch auf der Seebühne ist das Fotografieren während der Aufführung aus verständlichen Gründen verboten.
Was heuer Regisseur Philip Stölzl in perfekter Zusammenarbeit mit Bühnenbildnerin Heike Vollmer auf die Seebühne bringt, setzt neue Maßstäbe der Musiktheaterunterhaltung. Gleiches wäre zu konstatieren für die geradezu phänomenale Klangqualität der wahrscheinlich besten und teuersten Outdoor-Highend-Anlage der Welt. Die Wiener Symphoniker unter der vorzüglichen Leitung von Enrique Mazzola klangen geradezu göttlich.
Die Lautsprecher waren diesmal teilweise auf hohen Türmen und im Wasser platziert. Flächendeckend erbrachte das ein Klangbild von so grandioser Transparenz, Klarheit und auch Fortissimo-Brillanz, daß dagegen ein Liveorchester im normalen Opernhaus nur ein laues Lüftchen ist. Man konnte jedes Instrument orten, und auch die Soloinstrumente kamen losgelöst, glasklar und glockenrein rüber, als säßen die Musiker unsichtbar vor der gigantischen Zuschauer-Tribüne in räumlicher Verteilung bis auf 20 Meter Höhe. Tatsächlich sitzen sie und der Chor im Festspielhaus und werden jeden Abend neu zu den Solisten von einer Handvoll perfekt arbeitender Tontechniker eingemischt. Die Sänger tragen wasserfeste Mikroports, denn bei Regen wird nicht notwendigerweise abgebrochen – erst bei Gewitter.
Die ungeheure Arbeit der Technik bestand wie jedes Jahr darin, die auf der riesigen Bühne verteilt Solisten auch von ihrem exakten Standpunkt lokalisierbar erklingen zu lassen – z.B. singt Gilda (Melissa Petit) nicht nur atemberaubend aus einem Fesselballon in 20 Meter Höhe, sondern ist auch von dort oben klar akustisch ortbar. Es mußte selbst in dem Ballonkorb versteckte Lautsprecher geben.
Der vorzügliche singende Herzog (Steven Costello) ertönte öfter aus dem Mund des riesigen Clowns aus unterschiedlichen Höhen. Am Ende hing er sogar hoch oben auf dem Kopf des Totenschädels in luftigen 15 Metern Höhe in einer Hängematte um sein „la donna e mobile“ zu trällern – oder war es der Stuntman? Egal, das ist ja der spezifische Bühnenzauber von Bregenz, wo nach Art eines David Copperfield mit Ablenkung, Tricks und Illusionen gearbeitet wird. Was immer so perfekt funktioniert, daß der Zuschauer manchmal wirklich nicht weiß, ob gerade die Heldin oder ihr Double da zu sehen und zu hören sind.
Wunderbarer, variantenreicher, bezirzender und unterhaltsamer kann man den Zauberkasten Opernbühne nicht präsentieren. Eine Wohltat nicht nur fürs begeisterte Publikum, sondern auch für den geplagten Kritiker, der sich die meiste Zeit des Jahres mit elender Tristesse freudlos düsterer Einheitsbühnenbilder oder ganz leergeräumten Bühnenräumen und Guckkastensärgen rumärgern muß. Dafür schon das erste Bravo!
Stölzl hat einen riesigen, über 15 Tonnen schweren, mit Holz beplankten Schädel kreiert, der am Ende eines gigantischen Kranauslegers fixiert ist und dreidimensional frei und lautlos in alle Richtungen horizontal wie vertikal bewegt werden kann wie das Hightech-Fahrwerk auf einer modernen Kirmes.
Überhaupt ist das Stichwort Nostalgie-Kirmes ein guter Oberbegriff für das Szenario. Alles wirkt irgendwie bekannt, wie ein fest installierter, aus den frühen Zwanzigern bekannter, alter traditioneller Rummelplatz; mit Fahrgeschäften in Holzbeplankungen, bunter Zirzensik, Kraftmenschen, Kuriositäten, Skurrilitäten und Abnormitäten wie Frauen mit acht Brüsten, dem wildem Treiben von domestizierten Affenmenschen, Messerwerfern und vielem mehr. Alles wunderbar lebendig in Szene gesetzt. Ein Oscar für die bunte Kostümvielfalt müßte dafür an
Kathi Maurer gehen.
Auch das Wired Aerial Theatre, welches in luftigen Höhen mit akrobatischen Aktionen und Seilartistik uns das Herz bis zum Halse schlagen läßt, sollte prämiert werden. Sie machen all die heiklen Stunts, die für Sänger wirklich zu gefährlich wären.
Trotzdem gehen die Künstler, wie stets in Bregenz, an körperliche Leistungsgrenzen, die in keinem Opernhaus gefordert würden. Wer hier singt, läßt sich mutig auf etwas gänzlich Ungewöhnliches ein. Dafür gilt allen mein nächstes pauschales Bravo!
Die Bühne dominiert nicht nur der Kopf, sondern rechts und links daneben sind zwölf Meter große beweglichen Hände.
Ein weiteres Highlight ist der riesigen Clowns-Kragen als Spielfläche, die sich mechanisch schlagartig komplett zerlegen läßt, als wäre eine Bombe eingeschlagen, welche die Form in kleine Inseln zersplittert. Ein toller Theatercoup, der allerdings noch getoppt wird durch die unfaßbar variable Mimik, die der zentrale Clownskopf – eine durchaus hinterhältige Figur wie von Steven King – ausdrücken kann. Allein durch die Bewegung der großen Augen und des Mundes entstehen faszinierende Gesichter; gezeichnet anfangs von Horror, Hohn, Sarkasmus über Liebe und Freundlichkeit bis hin zum Elend der Verzweiflung und Ratlosigkeit am Ende, als wäre dieser Monsterkopf ein echter Mensch. Sogar ins Wasser des Bodensees taucht er ein. Und wenn er sich schließlich zu einem Totenkopf ohne Nase, Augen und Zähne verwandelt – exakte Parallele zur Opernhandlung, die ja im zweiten Teil den Tod signalisiert – dann wird auch das Licht (fabelhafte beleuchtet von Georg Veit) nur noch duster und unheimlich.
Zum veritablen Gewitter stürzen am Ende Tonnen von Wasserkaskaden (Tränen?) in der Gewitterszene durch die leeren Öffnungen. So etwas hat man noch nie gesehen! Auch das Gewitter klang so realistisch, daß nicht wenige Zuschauer spontan in den Himmel schauten. Die Mordszene wurde dann wurde eine regelrechte Geisterbahnfahrt eingeleitet, als bräche Dantes Inferno los. Flakartige Lichtwerfer und großen Scheinwerferbatterien, die perfekt das musikalische Gewittermotiv untermalten, blendeten das Auditorium und erzeugten eine Grusel-Stimmung, daß selbst abgebrühtesten Horrorfans der Atem stocken konnte.
Doch die Krönung von allem ist das Finale. Hier kehrt Stölzl wieder ganz werkgetreu zum kleinen Kammerspiel zurück. Der auf den Punkt herausragend und mit großem Atem singende Rigoletto (Vladimir Stoyanov) findet seine sterbende Tochter, wenn er den am Mittelfinger der riesigen Hand hängenden Sack entfernt, auf einer Schaukel. Während sie mit den letzten Tönen ihrer Partie das Leben auf der linken Bühnenseite aushaucht, gibt auf der rechten Seite die andere Hand den von innen illuminierten großen Fesselballon frei, der langsam bis auf fast 50 Meter Höhe in den Nachthimmel aufsteigt, aus welchem die personifizierte tote Seele von Gilda noch einen großen blauen Schleier herunterwirft, während die linke Hand sich zur Faust schließt und Rigoletto zerquetscht. Alles punktgenau zu den letzten Takten der Musik. Mit der allerletzten Note erlischt auch der Ballon.
Puh! Wahnsinn! Was für ein herzergreifendes Ende! Was für ein grandioses Bild, das sich einem noch lange einbrennt und welches man nicht vergessen wird!
Das Publikum ist erst einmal erschlagen von solchen Bildern, bevor es stürmisch applaudiert und braviert. Zu Recht, denn mit diesem Rigoletto hat eine neue Ära in Bregenz begonnen. Bravissimo!
Fotos © Bregenzer Festspiele / Karl Forster und Anja Köhler / Der Opernfreund
Herzlichst Ihr Peter Bilsing, 20.07.2019